Den Holocaust „erzählen“ – Geschichtserzählungen für die Grundschule auf Basis von Zeitzeugenberichten

Hintergrund

Bedeutung


„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“ (Theodor W. Adorno)
„Die universellen Aspekte des Holocaust sind die moralischen Lehren, die von allen Altersgruppen gelernt werden sollten. Im Primarbereich müssen wir Empathie vermitteln, Sensibilität und die Bereitschaft, sich um die Nöte und Probleme anderer Menschen zu kümmern.“ (Peppy Margolis)

Das Thema „Holocaust“ in der Grundschule – geht das überhaupt? Werden die Schüler damit nicht nur emotional, sondern auch kognitiv überfordert?
Diesen Bedenken muss man sich stellen, wenn man eine Beschäftigung mit diesem Thema andenkt. Dementsprechend gibt es wenig Unterrichtsmaterial, auch wenn es grundsätzliche Überlegungen und Versuche zur kindlichen Erziehung „nach Auschwitz“ bereits seit den 1980er Jahren gibt (z.B. das Bilderbuch „Das Kind im Koffer“) und die Fachdidaktik sich insbesondere seit den 1990er Jahren mit diesem Ansatz auseinandersetzt.

Nichtsdestotrotz bleibt das Thema weiterhin grundschuldidaktisch wenig bearbeitet und mit Vorbehalten (v.a. auf Eltern- und Lehrerseite) versehen. Die fachdidaktische Diskussion hat sich dagegen abgeschwächt und sogar ehemalige Skeptiker einer Behandlung dieses Themas in der Grundschule vertreten den Standpunkt: „Holocaust und Nationalsozialismus müssen Gegenstände des Sachunterrichts sein – denn sie sind aus lebensweltlicher wie aus bildungstheoretischer Perspektive relevant.“ (Detlef Pech)

Gertrude Beck begründete schon 1997 die Grundschultauglichkeit des Themas mit drei Thesen:

These 1:
„Um die Entstehung diffuser Ängste und den Aufbau von Vorurteilen zu verhindern, ist es sinnvoll und notwendig, dass Kinder rechtzeitig ihren Fragen zu Ereignissen, die Nationalsozialismus, Krieg, Judenverfolgung und Holocaust betreffen, nachgehen können und klare, verständliche Informationen erhalten.“

These 2
„Das Grundschulalter ist in besonderem Maße geeignet, um Kindern einen ersten Zugang zu einer sinnvollen Auseinandersetzung mit den Ereignissen des Holocaust zu ermöglichen.“
„Entwicklungspsychologisch gesehen ist gerade das Grundschulalter die Zeit, in der sich Kinder mit Werten wie Gleichheit und Gerechtigkeit beschäftigen. Sehr oft kann man von ihnen Aussagen wie: „Das ist nicht fair...“ hören. Das macht es ihnen wiederum möglich sich mit der Rolle eines Opfers auseinander zu setzen.“

These 3
„Erziehung nach Auschwitz kann sich nicht auf eine Unterrichtseinheit beschränken. Sie muss vielmehr langfristig auf die Persönlichkeitsbildung gerichtet sein und auf unterschiedlichsten Ebenen (soziale Kultur des schulischen Alltags, Umgang mit Konflikten und Minderheiten sowie Thematisierung von Ausgrenzung, Machtmissbrauch und Geschichte des Holocaust) erfolgen.“

Hunger

Bilder können in der Primarstufe einen altersgerechten Zugang zur Thematik eröffnen, wie hier z.B. im Bilderbuch „Froim“, das die Deportationsgeschichte eines jüdischen Jungen nacherzählt.

Doch welche Unterrichtsformen eignen sich für eine altersgemäße Auseinandersetzung mit dem Holocaust?

Dietmar von Reeken führt u.a. folgende mögliche methodische Zugänge auf:
-    das Lernen an Biographien,
-    die Arbeit mit und in Gedenkstätten,
-    die Arbeit mit Kinder- und Jugendliteratur.

Gerade der Zugang über Einzelschicksale kann in der Grundschule dazu beitragen, dass die Kinder erkennen, dass die Opfer verschiedenste Menschen (Kinder) aus unserer Nachbarschaft und uns in vielen Dingen ähnlich waren.

Auf diesem Ansatz basiert dieser Unterrichtsvorschlag.
Im Rahmen eines Fachdidaktikseminars an der Universität Stuttgart wurden im WS 16/17 auf Basis von Zeitzeugenberichten, die in der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/ Tailfingen sowohl in videografierter als auch transkribierter Form vorliegen, biografische Geschichtserzählungen entwickelt, die sich für den Einsatz in der Grundschule eignen und dem Konzept der Holocaust-Education für die Erziehung nach Auschwitz für Kinder von 3 bis 10 Jahren nach Ido Abram entsprechen.

Es handelt sich dabei um „Erziehung nach Auschwitz ohne Auschwitz“, eine Erziehung, in der detaillierte Darstellungen extremer Grausamkeiten unterbleiben, die aber „Empathie“, „Wärme“ und „Autonomie“ fördert.
Das mündliche und/oder schriftliche Erzählen historischer Beispiele ermöglicht Imagination, Perspektivübernahme und Anteilnahme.
Da das Thema Holocaust überkomplex und in seiner Gesamtheit für Grundschüler keinesfalls zu erfassen ist, ist die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten essentiell.

„Biographische Zugangsweisen werfen den Blick auf die individuelle Vergangenheit, auf die Erlebnisse eines Menschen und versuchen, Erfahrungswelten lebendig zu machen. Kinder können sich in der Auseinandersetzung mit Biographien ihrer eigenen (Auto)Biographie vergewissern und sich der Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten bewusst werden. (...)
Lernen an Biographien meint in diesem Zusammenhang „im Gegensatz zum (auto-)biographischen Lernen, dass sich Lernende und Lehrende mit der komplexen Lebensgeschichte eines anderen Menschen auseinandersetzen, diese rekonstruieren und somit (selbst-)reflektieren.“
(Andrea Becher in In: www. widerstreit-sachunterricht, beiheft 3. ) 

Dadurch schulen bereits Grundschüler ihre Sach- und Reflexionskompetenz und gewinnen eine erste Orientierung nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch für ihre Gegenwart und Zukunft.
Insofern können Geschichtserzählungen einen altersgerechten Zugang zum Thema „Nationalsozialismus und Holocaust“ bieten, was durchaus schon Eingang in den Sachunterricht der Grundschule finden kann. Denn dessen Behandlung Ende der Mittelstufe ist – so auch die Auffassung einiger Geschichtsdidaktiker  und Ergebnis empirischer Untersuchungen  – viel zu spät angesichts der medialen und lebensweltlichen Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen.

 

Rock-Tabarowski

Grundlage einer der Geschichtserzählungen sind die Lebenserinnerungen des griechischen Zwangsarbeiters Eduard Rock-Tabarowski, hier auf einem Passbild von 1945

Neben einer ersten Begegnung mit dem historischen Thema sind übergeordnete didaktische Ziele des Unterrichtsvorschlags, wie sie Gertraud Hoheneder formuliert:

1)     Positive Werte vermitteln :
    a) Respekt vor den anderen haben
    b) Einsicht, dass jeder bestimmte Fähigkeiten und Schwächen hat

2)     Die NS–Gewaltherrschaft als Entwicklungsprozess wahrnehmen

3)     Das Rechtsempfinden stärken

4)     Den Opfern Gesichter geben, waren Nachbarn, Menschen mit eigener Geschichte, Kultur und Religion

5)     Den Kindern bei der Auseinandersetzung mit den schmerzlichen Assoziationen des Begriffes „Holocaust“ helfen, einen positiven Zugang durch Zuhilfenahme adäquater Materialien

6)     Toleranz zu unserem Nächsten vermitteln durch positive Identifikation, durch Bewunderung, Zuneigung, Respekt, Sympathie, die Fähigkeit, das Gute im Menschen zu erkennen.

7)     Geschichten von konkreten Handlungen erzählen, die das intellektuelle und emotionale Niveau des Kindes stärken und fördern.

8)     Den speziellen Wortschatz in der Geschichte des Holocaust erklären : Begriffe wie Ghetto, Konzentrationslager, Nazi,...

 „Das Gute im Menschen erkennen“ – Geschichten von gegenseitiger Unterstützung können einen positiven Zugang zum schmerzlichen Thema ermöglichen.


 - Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Stuttgart -


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