Gretchen Kahn in Stuttgart: Assimilation und Ausgrenzung von Juden um 1900

Hintergrund

Bedeutung

Um die Ambivalenz moderner Lebenswelten um 1900 in Europa (Bildungsstandard 3.2.5.3) am Beispiel der Judenemanzipation zu analysieren, eignet sich besonders gut das Leben der jüdischen Ehefrau und Mutter Gretchen Kahn, die über ihren Alltag, aber auch Ereignisse in Stuttgart und der Welt in ihren Tagebüchern berichtet.

Während des späten Mittelalters und der früher Neuzeit war Stuttgart mit seinen wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten für jüdische Händler und seinem Judenbann ein für jüdisches Leben eher feindlicher Ort. Große Ausnahme war der Fall des sich 1710 als Hofjude niedergelassenen Juden Joseph Süß Oppenheimer, dessen politischer Aufstieg allerdings mit seiner Hinrichtung 1738 jäh endete. Ab 1806 entwickelten sich die damals sogenannten "Hofjuden" zu Bankiers und modernen Unternehmern, wobei die Familie Kaulla in Stuttgart mit ihrem Aufbau der Hofbank eine wichtige Funktion hatte. Im Jahr 1864 erreichten die Juden die volle bürgerlich-rechtliche Gleichstellung gegenüber anderen württembergischen Untertanen. Ab diesem Zeitpunkt gehörten die jüdischen Stadtbüger meist der reichen Oberschicht Stuttgarts an und einige von ihnen zählten auch zu den Millionären Stuttgarts. Die Konsumgüterbranche war der Kristallisationspunkt jüdischer Karrieren und erste Kaufhäuser, Leinenfabriken und Banken entstanden. Gleichzeitig machten sich Juden in der Stadt als Ärzte und Rechtsanwälte erfolgreich selbstständig. 

Frauen hatten die Möglichkeit, sich in sozialen Berufen zu emanzipieren, wie zum Beispiel als Krankenschwester. Thekla Kauffmann sticht besonders hervor, da sie sich aktiv für das Frauenwahlrecht einsetzte und in der Weimarer Zeit die erste jüdische Abgeordnete des Landtags (DDP) wurde.

In der Zeit des Kaiserreichs lebten in Deutschland ungefähr 512.000 Juden, von denen viele sozial aufgestiegen waren. Dieser Aufstieg wurde gerade in den Städten zur Basis vieler judenfeindlichen Vorurteile. Eine Lösung dieser Problematik sahen die Juden im Austritt aus dem Judentum, der ab 1876 durch ein „Austrittsgesetz“ möglich wurde. Besonders in Krisenzeiten wie dem Börsenkrach im Oktober 1873 waren antisemitische Vorurteile im Umlauf und "jüdische Kapitalisten", wie es damals hieß,  wurden mit dem Zusammenbruch der europäischen Börsen in Verbindung gebracht. Ab 1870 wurden rassistische und nationalistische Vorurteile in bürgerlich-liberalen Kreisen salonfähig, auch in Stuttgart entwickelte sich ein radikalnationalistisches-antisemitisches Milieu mit eigener Parteistruktur und Zeitung. Kontrovers in der Geschichtswissenschaft bleibt die Frage nach der Kontinuität des modernen Antisemitismus vom Kaiserreich über die Weimarer Republik in die Zeit des Nationalsozialismus. In Stuttgart kann man von einer erheblichen personellen und ideologischen Kontinuität zwischen den antisemitischen Zirkeln des Kaiserreichs und der frühen NSDAP ausgehen. 

Die Tagebücher der Gretchen Kahn wurden ursprünglich im Jahr 2007 vom Stuttgarter Stadtarchiv unter der Annahme von einem israelitischen Archivar erworben, es handle sich um Aufzeichnungen des Unternehmers Siegfried Kahn. Anstelle dessen umfasste der Kauf sechs Tagebücher der Jüdin Gretchen Kahn (geb. Friedmann), die von ihrem Alltag zwischen 1905 und 1925 berichtete. Gretchen Kahn wurde 1875 in Königshofen geboren und heiratete im Sommer 1901 Seligmann Kahn. Gemeinsam mit ihrem Schwager Siegfried und ihrer Schwägerin Sarle lebten die beiden in der Augustenstraße in Stuttgart. Den Schülerinnen und Schülern eröffnet sich durch die Augen der Gretchen Kahn ein breites Panorama des alltäglichen jüdischen Lebens um 1900 in Stuttgart. Nicht nur die Einbindung in die jüdische Gemeinde in Bezug auf politische, wirtschaftliche und religiöse Aspekte lassen sich vorfinden, sondern auch die Assimilation in das Stuttgarter Stadtleben: Besuche bei Tritschler, im Landtag oder die Wahrnehmung von Weihnachten ermöglichen die Diskussion, inwiefern sich damals eine jüdische Familie in das Stadtleben assimilierte.

Berichte aus dem Leben innerhalb der jüdischen Gemeinde mit Besuchen des ersten großen Kaufhauses in Stuttgart oder dem Treffen großer jüdischer Sänger zeichnen den Beitrag nach, den die Juden zu Wirtschaft, Gesellschaft und politischem System leisteten. Zudem zeigen Tagebucheinträge über Ausgrenzung und Verfolgung den Schülerinnen und Schülern das Spannungsfeld jüdischen Lebens zwischen Assimilation und Verfolgung. 

Dieses Modul eignet sich im Vorfeld zur Wahrnehmung von Antisemitismus im Kaiserreich und als Hinführung zur Problematik des Antisemitismus durch die Zeit hindurch. 


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Stuttgart -


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