"Heilpflanzen"

"Der Weg, den die Heilpflanzen zu uns
genommen haben, beginnt in der Antike"

Ein Großteil unserer heutigen Kenntnis basiert auf den Vorarbeiten griechischer Ärzte und Philosophen. Diese wiederum bezogen ihr Wissen aus ägyptischen und babylonischen Texten. Sehr frühe Quellen, die auch in griechischer Zeit gelesen wurden, besitzen wir in einigen babylonischen Tontafeln und ägyptischen Papyri. Die babylonischen Keilschrifttexte (um 3000 v. Chr.) fassen sehr kurz Kräuternamen und ihre Anwendung zusammen. Sie sind zumeist religiösen Inhalts. Nicht nur die genannten Kräuter, sondern auch die Wortwahl und der Aufbau dieser frühen Texte bilden eine Vorlage für die griechischen Schriften.

Der Smith- und der Ebers- Papyrus (1600 –1500 v. Chr.) beide benannt nach ihren Entdeckern- enthalten neben genauen Berichten über Krankheitsbilder und –verläufe auch jeweils an die 900 Rezepte, in denen tierischen und besonders pflanzlichen Stoffen heilende Kraft zugeschrieben wird. Ihre Heilwirkung entfalten sie zumeist in religiöser Umgebung.


Papyrustafel auf der rechten Seite
(Originalübersetzung, bzw. Originalwortlaut!)

[Kolumne 39, Zeile 1] ... des Stieres, zu essen durch den Mann, zu schlucken mit „Extra-Opferbier", um zu öffnen [39,2] seine beiden Augen und um schwinden zu lassen seine xnt-Krankheit, indem sie absteigt als seine Schleimstoffe.
Wenn Du untersuchst [39,3] einen Mann, der stundenweise leidet wie beim Essen von Kot, sein Herz ist ermüdet [39,4] wie das Keuchen beim Wandern, dann sollst Du dazu sagen: Das sind die Verstopfungen der Anhäufung! [39,5] Nicht werden sie in ihm aufsteigen. Nicht hält das Herz stand gegen den schlimmen Krankheitsfall, denn er machte eine xsd-Geschwulst. [39,6] Es sind die Fäulnisprodukte des Eiters, das Leiden drückt. Dann sollst Du für ihn Mittel machen, [39,7] um es aufzubrechen als Heilmittel.
Wenn Du einen Mann untersuchst, der an seinem Magen leidet, sein Körper [39,8] ist eingeschrumpft und ungewöhnlich ganz und gar. Wenn Du ihn untersuchst und nicht findest Du ein Leiden [39,9] im Bauch außer den Hautfalten des Körpers wie pjt, dann sollst Du dazu sagen: [39,10] Es ist der Kummer Deines Hauses! Dann sollst Du für ihn machen Mittel dagegen: Blutstein aus Elephantine, zerreiben; Körner (des Flachses); [39,11] Koloquinthe, kochen in Öl; Honig; zu essen durch den Mann an
4 Morgen, [39,12] um zu vernichten seinen Durst und um zu beseitigen seinen Kummer.

Übersetzung der Tafel 39 aus
dem Ebers Papyrus
Ebers Papyrus, Tafel 39

Wenn Du untersuchst [39,13] einen, der verstopft ist an seinem Magen, und Du findest, dass er verstopft ist und blockiert, sein Herz ist Hws (beengt?) und [39,14] sein Magen, er ist staubtrocken. Dann sollst Du dazu sagen: Es ist ein Blutnest, das noch nicht gefestigt ist. Dann sollst Du veranlassen, [39,15] dass es absteigt durch ein Heilmittel. Du sollst für ihn machen:sam-Pflanze 1/8, prt-Snj-Pflanze 1/16, jSd-Frucht [39,16] 1/8, SASA-Pflanze 1/8; kochen in „Extra-Opferbier", durchpressen zu einer einheitlichen Masse. [39,17] Es geht ab dieser Fall entweder durch seinen Mund oder durch seinen After wie [39,18] Blut vom Schwein, nachdem es erhitzt ist. Natürlich hast Du ihm darauf angelegt einen Verband, [39,19] damit es gerinnt, noch bevor Du dieses Mittel anwendest. Dann sollst Du für ihn machen [39,20] eine begleitende Salbe aus Stierfett, Samenkörnern des Selleries, SAwjt-Pflanze, [39,21] Myrrhenharz und aAgt-Harz; zerreiben und damit verbinden.

Wenn Du einen Mann untersuchst, der an seinem Magen leidet ...

Bis zum 8. – 7. Jahrhundert v. Chr. sind keine schriftlichen Quellen zur Kräutererkenntnis überliefert.
Aus den zeitgleichen homerischen Epen erfahren wir, dass die Griechen Kräuter zur Wundbehandlung benutzten.

Doch sind diese „Pharmaka" nicht bekannt und daher nicht zu bestimmen. Mit Sicherheit ist allerdings nachzuvollziehen, dass im 8. – 7. Jh. v. Chr., der Entstehungszeit der Epen, andere Krankheiten als willentlich zugefügte Wunden als Schicksal und von den Göttern gegeben angesehen wurden. Daher wäre menschliches Eingreifen vermessen gewesen, die einzige Hoffnung auf Heilung bestand in göttlicher Hilfe.

Das homerische Pharmakon ist in seiner doppelten Bedeutung als „Heilmittel" und als „Gift" typisch für die schwierige Bestimmung dessen, was als Heilmittel anzusehen war: Eigentlich alles was eine Wirkung verursachte; erst die Dosis entschied, ob es heilsam oder tödlich war.

Archäologisch lassen sich für das 8. – 7. Jhd. v. Chr. Handelsbeziehungen nachweisen, die auf dem Seeweg Kenntnisse über Heilpflanzen, deren Anbau und Vorkommen von Ägypten über Kreta und Zypern zum griechischen Festland und Kleinasien gebracht haben.

Unter dem Herrscher Nebukadnezar (+562 v. Chr.) ist die mesopotamische Stadt Babylon ein bedeutendes Handelszentrum und Knotenpunkt zahlreicher Handelswege. Nach dessen Tod wird die Vormachtstellung der Griechen immer deutlicher, und vor allem von Alexander dem Großen (356 – 323 v. Chr.) in seinen zahlreichen Feldzügen ausgebaut.

Nun liegen die Handelszentren nicht mehr an der phönizischen Küste, sondern in Ionien, Kilikien, Lydien und der griechischen Haupt- und Hafenstadt Alexandria.

Von dort aus erfolgen Exporte in den gesamten Mittelmeerraum, vor allem jedoch nach Griechenland und Rom.

Der griechische Arzt Hippokrates (460-370 v. Chr.) beschreibt in seinen gesammelten Schriften (Corpus Hippocraticum) Kenntnisse und Anwendungen von Kräutern, die bislang mündlich weitergegeben und im Hausgebrauch („Volksmedizin") angewendet wurden.

Seine Schriften geben nicht nur Informationen über Heilpflanzen, sondern auch über Massenerkrankungen (Epidemien) und individuelle Krankheitsverläufe. Hippokrates schafft auf der theoretischen Grundlage der Naturphilosophie des 6. – 5. Jhd .v. Chr. ein neues Bild vom Menschen und dessen Krankheiten.

So wie die Welt nach der Lehre des Empedokles von Agrigent (450 v. Chr.), dem letzten Naturphilosophen, aus vier Grundelementen besteht (Feuer, Wasser, Luft und Erde), so wirken im Menschen vier Säfte, die bestimmten Organen entspringen: Es sind Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Sie durchfließen den Menschen und lösen in ungünstiger Zusammensetzung seine Krankheit aus. Dieses Missverhältnis gilt es, in harmonischen Einklang zu bringen.

Hippokrates und seine Schüler haben aus den philosophischen Ansätzen und neuen medizinischen Erkenntnissen eigene Therapieformen entwickelt: Das Abschröpfen der schlechten Säfte, die Diätlehre und in besonderem Maße das Verabreichen von Kräutern mit reinigenden, abführenden bzw. guten Säften zuführenden Wirkungen.

Alle nachfolgenden Quellen bis zum letzten großen Arzt der Antike, Galenos von Pergamon (2. Jhd. n. Chr.) bauen auf der hippokratischen Lehre auf. Sie enthalten keine neuen Ansätze zum Krankheitsbild, sondern vermehren Umfang und Kenntnis der Heilkräuter. Kannte Hippokrates im 5. Jhd. v. Chr. "nur" 236 Pflanzennamen, sind es bei dem griechischen Arzt Dioskurides von Anazarba, der im 1. Jhd. n. Chr. in Rom tätig war, schon 600 zitierte Kräuter.

Das umfangreiche Werk des Philosophen und Aristoteles Schülers Theophrast (370-287 v. Chr.) über die „Naturgeschichte der Gewächse" teilt uns Gestalt und Vorkommen bislang unbekannter Pflanzen mit. Nach seinen Angaben konnte es gelingen, Heilkräuter in der Natur zu erkennen und gezielt ihre Vermehrung in „botanischen Gärten" zu betreiben. So war es nicht mehr nötig, für den Erwerb aller Kräuter weite Handelswege zu beschreiten.

Neben der heilenden Wirkung der Pflanzen erwachte im 1. Jhd. v. Chr. ein reges Interesse an giftigen Pharmaka , die eingesetzt wurden, um Menschen zu vergiften oder als Gegenmittel eben vor Giftattentaten zu schützen.

Das berühmteste dieser Gegengifte ist das Mithridatium, das aus 52 unterschiedlichen Substanzen besteht. Unter anderem waren in ihm Kardamon, Anis, getrocknete Rosenblätter, Mohnsaft, Kassia, Petersilie, Pfeffer enthalten. Kurz alles, was die Gewürz- und Kräuterküche zu bieten hatte.

Die Erfindung der „Wundermischung" geht auf Krateuas (um 100 v. Chr.), den begabten Leibarzt des Mithridates VI von Pontos, zurück. Der Giftmord als Mittel der Politik veranlasste Mithridates zu eigenen Studien auf diesem Gebiet. Pompeius ließ daher nach Mithridates Tod auch seine Bücher, einen "Giftschrank" in mehr als einem Sinne, nach Rom bringen und zum Nutzen der römischen Ärzte ins Lateinische übersetzen.

Der für seine Angst vor Giftmorden bekannte römische Kaiser Nero, ließ das Mittel noch um weitere 12 Substanzen (u. a. Vipernfleisch) bereichern und damit seine Wirkung, wie er meinte, verbessern.

Im Mittelalter genoss die Weiterentwicklung des Mithridatiums unter dem Namen Theriak (Theriacum Andromachi), nach dem Leibarzt des Nero benannt, allerhöchsten Ruf und war in gewissen Kreisen sehr gefragt.

Im 1. Jhd. nach Chr. erschien die erste illustrierte Kräuterkunde. Das Buch Materia medica (Arzneimittellehre) des erfahrenen Miltärarztes und Botanikers Dioskurides verkörpert den Durchbruch der Pharmakopoe.

Er widmete seine Arzneimittellehre einem Kollegen, dem Asklepiaden Areios, und begründete in der Vorrede, warum er trotz seiner bedeutenden Vorgänger ein neues Buch schreiben wollte: Er vermisste eine Zusammenstellung von Heilmitteln, bei der pflanzliche und mineralische Wirkstoffe gleichermaßen berücksichtigt, gut beschrieben und systematisch dargestellt seien.

"Vor allem ist es notwendig, mit Sorgfalt bedacht zu sein auf die Aufbewahrung und das Einsammeln eines jeden Mittels zu der ihm angepassten geeigneten Zeit . Denn davon hängt es ab, ob die Arzneien wirksam sind oder ihre Kraft verlieren. Sie müssen nämlich bei heiterem Himmel gesammelt werden; denn es ist ein großer Unterschied darin, ob die Einsammlung bei trockenem oder regnerischem Wetter geschieht, wie auch ob die Gegenden gebirgig, hochgelegen, den Winden zugängig, kalt und dürr sind, denn die Heilkräfte dieser (Pflanzen) sind stärker. Die aus der Ebene, aus feuchten schattigen und windlosen Gegenden sind zumeist kraftloser, um so mehr, wenn sie zur ungeeigneten Zeit eingesammelt oder aus Schlaffheit hingewelkt sind. Auch ist freilich nicht außer Acht zu lassen, dass sie oft durch die gute Bodenbeschaffenheit und das Verhalten der Jahreszeit früher oder später ihre volle Kraft haben. Einige lieben die Eigentümlichkeit, dass sie im Winter Blüten und Blätter treiben, andere blühen im Jahre zweimal. Wer hierin Erfahrung sammeln will, der muss dabei sein, wenn die neuen Sprosse aus der Erde kommen, wenn sie sich im vollen Wachstum befinden und wenn sie verblühen..."

Er beschreibt 600 Kräuter und 1000 Anwendungsmöglichkeiten. Auch die Zutaten selbst verwundern den modernen Leser. So empfiehlt der griechische Arzt gerne das Beimischen von Schlangen- oder Schneckenfleisch, Ochsengalle und anderen tierischen Bestandteilen. Ebenso wenig fehlen in seinen Anleitungen Bleioxide, Kupferacetat und weitere Metallverbindungen, deren hohe Giftigkeit damals noch nicht bekannt war.

Sein Werk wurde zur meistbenutzten Arzneimittellehre nicht nur der Antike, sondern auch des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Zahlreiche Handschriften sind erhalten, auch in lateinischer und arabischer Übersetzung.

Das schönste Exemplar wurde vor 512 n. Chr. in Konstantinopel für die byzantinische Prinzessin Anikia Iouliana hergestellt und gelangte auf verschlungenen Wegen nach Wien.
Der "Wiener Dioskurides" zeigt auf den ersten Seiten die Bilder der berühmtesten Ärzte und Pharmakologen und nachfolgend farbige Heilpflanzenzeichnungen.
Die stark griechisch geprägte Heilpflanzenkunde ist nie verloren gegangen.
Sie erfuhr durch den römischen gelehrten Celsus (1. Jhd. n. Chr.) eine Verfeinerung in den Rezepturangaben und durch den römischen Arzt Galenos aus Pergamon, eine erweiterte Anwendung dank seiner neuen anatomischen Kenntnisse.
In den folgenden Jahrhunderten gab es keine Weiterentwicklung der Kräutermedizin.

Im 6. Jhd. n. Chr. wurde während der justitianischen Pestwellen fast das ganze öffentliche Leben in Mitteleuropa lahm gelegt. Viel Wissen ging verloren.
Etwa zur selben Zeit begründete Benedikt von Nursia den Benediktinerorden. Die von ihm eingeführten Regeln legten auch den Grundstein für die spätere Klostermedizin. Das 36. Kapitel behandelte die Pflege der Kranken: „ Die Sorge für die Kranken steht vor und über alle anderen Pflichten" Ein Ordensbruder Benedikts, Cassiodor, Begründer des Klosters Vivarium, empfahl seinen Mönchen: „Lernet die Eigenschaften der Kräuter und die Mischungen der Arzneien kennen.."
Sie sollten die wichtigsten medizinischen Schriften, allen voran die "Materia medica" des Dioskurides studieren. So erfolgte durch die Klöster ein Wiederaufleben des antiken Wissens.

Um die Zeit Karls des Großen (800 n. Chr.) wurde das erste Werk der Klostermedizin auf deutschem Boden geschrieben, das "Lorscher Arzneibuch"

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