Hintergrundinformationen

1.1 Bedeutung

Der Vertrag zu Tübingen, das erste württembergische Staatsgrundgesetz

B 2 Der Vertrag zu Tübingen, das erste württembergische Staatsgrundgesetz
© gemeinfrei, wikicommons, Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Im Gegensatz zum Bauernkrieg von 1524/25 und seiner brutalen Niederwerfung durch die Fürsten, hat die durch den „Armen Konrad“ 1514 ausgelöste Regierungskrise in Württemberg zu einer nachhaltigen Veränderung der staatlichen Ordnung des Herzogtums geführt, die im Tübinger Vertrag festgehalten wurde. Nahezu 300 Jahre lang bildete dieses Staatsgrundgesetz die Basis für ein politisches Mitspracherecht der bürgerlichen Landstände in Württemberg, aber auch für Freiheitsrechte, die jedem Untertan, auch dem leibeigenen, zugestanden wurde: Das Recht des „freien Zugs“ (Auswanderung, Abwanderung in die Reichsstädte) oder den Anspruch auf ein ordentliches Gerichtsverfahren.

Der Tübinger Vertrag wird in der Geschichtswissenschaft unterschiedlich gewertet. Für die einen ist er eine württembergische „Magna Charta“, für die anderen ein Paradebeispiel dafür, dass die württembergische „Ehrbarkeit“, die führenden Familienclans des Landes, im Interesse ihrer eigenen Machtstärkung den „gemeinen Mann“ verraten hat.

Gerade diese unterschiedliche Bewertung macht das Thema für den Unterricht besonders reizvoll, fordert es doch die Reflexions- und Orientierungskompetenz in besonderem Maße heraus. Aber auch der Vergleich mit der Magna Charta bietet Chancen für einen Unterricht mit europäischer Perspektive und öffnet ein „Fenster zur Welt“.

Während die Magna Charta von 1215 zwischen König und Adel vereinbart wurde, musste der württembergische König mit den politischen Vertretern des Besitzbürgertums verhandeln, was die Schranken des feudalen Ständestaates eigentlich sprengte. Um so beachtlicher ist es, dass der Tübinger Vertrag bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von den bürgerlichen Landständen verteidigt werden konnte und letztlich sogar europäische Großmächte wie Preußen und England als seine Garantiemächte auftraten.

„Der Vertrag zu Tübingen, der europaweit zu den wichtigsten Verfassungsverträgen zählt, markiert durch diese Anerkennung von Grundrechten eine geistes- und verfassungsgeschichtliche Entwicklung, die unser Leben bis heute begleitet.“ (Götz Adriani, Boris Palmer, Andreas Schmauder im Vorwort zu Götz Adriani, Andreas Schmauder, 1514. Macht Gewalt Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs. Tübingen 2014, S.11)

1.2 Geschichte

Flugschrift zum Armen Konrad, Mai 1514

B 3 Flugschrift zum Armen Konrad, Mai 1514
© gemeinfrei, Quelle: Preußischer Kulturbesitz

Frühjahr 1514
Auslöser der Regierungskrise im Herzogtum Württemberg ist eine dubiose Erhöhung der Verbrauchssteuern auf Grundnahrungsmittel. Statt den Preis der Lebensmittel um den Steueraufschlag zu erhöhen, vermindert die Regierung Maß und Gewicht um den Steuerbetrag, um die Steuererhöhung zu verschleiern. Das hat zur Folge, dass ein Käufer für den bisherigen Preis weniger Ware bekommt.

2. Mai
Der Beutelsbacher Peter Gais inszeniert als besondere Form des Protests gegen den Betrug ein „Gottesurteil“. Er besorgt sich die neuen, verminderten Gewichte, zieht mit seiner Anhängerschar an die Rems und wirft sie ins Wasser, begleitet von den Worten, wenn sie nach oben schwämmen, hätte der Herzog recht, wenn sie nach unten sänken, die Unzufriedenen. Diese Wasserprobe wird an mehreren Stellen unter dem Jubel des Volkes wiederholt.

Peter-Gais-Denkmal von Fritz Nuss in Beutelsbach

B 4 Peter-Gais-Denkmal von Fritz Nuss in Beutelsbach
© Ulrich Maier

4.Mai
Aufständische Bauern und Angehörige städtischer Unterschichten ziehen vor die Amtsstadt Schorndorf und demonstrieren gegen den „Bösen Pfennig“.

Mitte Mai
Der Aufstand breitet sich bis Mitte Mai weiter aus. Schließlich werden 32 von 43 württembergischen Ämtern davon erfasst. Angesichts der bedrohlichen Lage hebt der Herzog die Verbrauchssteuer auf und verspricht Straffreiheit für die Aufrührer. In einer Versammlung in Beutelsbach wird der Name „Armer Konrad“ für die Widerstandsbewegung gefunden. Der „Arme Konrad“ fordert eine gerechte Aufteilung von Grund und Boden, persönliche Freiheit, freies Jagd- und Fischereirecht und freie Waldnutzung.

28.Mai
Alle Aufständischen werden aufgerufen, sich zur Kirchweih in Untertürkheim am 28.Mai einzufinden. Der Herzog droht mit scharfen Sanktionen und lässt, soweit es geht, die Boten, die dazu einladen, abfangen.

Anfang Juni
Da der Volksaufstand weiter eskaliert, sieht sich der Herzog gezwungen, für den 26. Juni einen Landtag nach Stuttgart auszuschreiben, an dem auch Vertreter der ländlichen Gemeinden teilnehmen sollen. Jedoch einigt sich die bürgerliche Führungsschicht in den Amtsstädten des Herzogtums mit dem Herzog darauf, die Vertreter der Aufständischen zwar in Stuttgart tagen zu lassen, den eigentlichen Landtag aber in Tübingen durchzuführen und erst danach die Beschwerden der ländlichen Gemeinden anzuhören. Daraufhin verstärken sich die Unruhen weiter. Der kluge Schachzug der herzoglichen Regierung setzt darauf, dass auch die bürgerliche „Ehrbarkeit“ kein Interesse daran haben könnte, dass die Forderungen des „Armen Konrad“ ihre bis dato privilegierte Stellung gefährden könnten.

Im Tübinger Rathaus berieten sich die Abgeordneten der „Landschaft“

B 5 Im Tübinger Rathaus berieten sich die Abgeordneten der „Landschaft“
© Ulrich Maier

8. Juli
Der Herzog einigt sich unter der Vermittlung von kaiserlichen Räten und Fürsten in wenigen Tagen mit den bürgerlichen Landständen darauf, dass diese die Schulden des Herzogs in Höhe von 920 000 Gulden übernehmen, dafür aber das Recht erhalten, bei der künftigen Steuererhebung mitzuwirken. Außerdem erhalten sie Mitsprache in Fragen der Außenpolitik (Kriegführung, keine Veräußerungen von Land und Leuten ohne ihre Zustimmung). Nach einer Übergangsfrist erhalten alle württembergischen Untertanen das Recht des „freien Zugs“ (Auswanderung) und das Recht auf ordentliche Prozesse vor Gericht. In einem „Empörerartikel“ wird ausdrücklich festgelegt, dass Aufruhr gegen die Staatsgewalt mit der Todesstrafe geahndet wird. Ein „Nebenabschied“ befasst sich auch mit den Forderungen der Bauern, die sogar teilweise erfüllt werden. Der Herzog fordert die Vertreter der Bauern in Stuttgart nun auf, nach Hause zu gehen, weiteren Beschwerden dort zu formulieren und auf den Tübinger Vertrag zu schwören.

Mitte Juli
Über die Ergebnisse des Tübinger Vertrags enttäuscht, flammen die Aufstände wieder auf. Der „Arme Konrad“ besetzt strategisch wichtige Plätze und fasst folgenden Beschluss:
Die Bauern Württembergs sollen frei sein und keine Frondienste mehr leisten müssen.
Der „Arme Konrad“ zieht gegen die Herrschenden, enteignet sie und verteilt den Besitz.
Herzog Ulrich soll verhaftet und vor ein Gericht gestellt werden.
Als sich die Gerüchte mehren, dass der Herzog mit einer Übermacht landesfremder Truppen gegen den „Armen Konrad“ zieht, verlassen viele das Bauernheer.

August
Gestärkt durch die Einigung mit den bürgerlichen Landständen in Tübingen greift der Herzog nun hart durch. Die Führer des Aufstandes werden gefangen genommen. Einige von ihnen werden öffentlich enthauptet, Hunderte von Mitläufern gefangen genommen und gefoltert. Vielen gelingt die Flucht außer Landes. Die herzogliche Regierung prüft im August und September die schriftlich vorgebrachten weiteren Beschwerden der Untertanen in den Ämtern und erfüllt sie zum Teil. Die Gemeinden erhalten entsprechende Freiheitsbriefe.

1770
Herzog Karl Eugen muss - auch für seine Nachfolger - die Verfassungslage des Tübinger Vertrags für Württemberg anerkennen, nachdem er versucht hatte, diesen auszuhebeln.

1806-1819
Am 1.1.1806 nahm Friedrich von Württemberg die Königswürde an und setzte die altwürttembergische Verfassung außer Kraft. Die Stände protestierten und forderten die Rückkehr zum "alten, guten Recht" des Tübinger Vertrags. Versuche König Friedrichs nach 1815 eine neue Verfassung durchzusetzen scheiterten an ihrem Widerstand.
Erst unter seinem Sohn, König Wilhelm I., gelang ein Vergleich. Eine neue württembergische Verfassung wurde nach der Tradition des Tübinger Vertrags zwischen den Ständevertretern und dem König ausgehandelt und trat 1819 in Kraft.

1.3 Anlage

Spurensuche in Beutelsbach: Peter-Gais-Denkmal und Bauernkriegsmuseum

Peter-Gais-Denkmal von Fritz Nuss vor dem Rathaus in Beutelsbach

B 6 Peter-Gais-Denkmal von Fritz Nuss vor dem Rathaus in Beutelsbach
© Ulrich Maier

In Beutelsbach erinnert das Peter-Gais-Denkmal an das Ereignis, das den Volksaufstand des Armen Konrad auslöste. Peter Gais ist in Beutelsbach inzwischen zur Identifikationsfigur geworden. Der Bildhauer hat in seinem Denkmal Volkswitz und zivilen Ungehorsam künstlerisch gestaltet. Auch die Platzierung zwischen Rathaus und Kirche macht die Richtung klar: Widerstand gegen Behördenwillkür und Autoritätshörigkeit.
Das zum Jubiläumsjahr 2014 neu gestaltete Bauernkriegsmuseum im alten Beutelsbacher Rathaus informiert darüber, „wo alles begann“, über die Aktionen des „Armen Konrad“, die Lebensverhältnisse der Bauern und die Folgen des Aufstandes.

Spurensuche in Tübingen: Rathaus und Schloss

Konrad Breuning, Vogt von Tübingen, leitete die Verhandlungen zum Tübinger Vertrag. Malerei am Tübinger

B 7 Konrad Breuning, Vogt von Tübingen, leitete die Verhandlungen zum Tübinger Vertrag. Malerei am Tübinger Rathaus
© Ulrich Maier

Die Historienmalerei auf dem Tübinger Rathaus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt unter anderem den Tübinger Vogt Konrad Breuning, der die Verhandlungen, die zum Tübinger Vertrag führten, leitete. Er entstammt einer angesehenen Familie der württembergischen „Ehrbarkeit“. Sein Bruder Sebastian war Vogt in Weinsberg. Beide wurden von Herzog Ulrich etwa ein Jahr nach dem Tübinger Vertrag gefangen gesetzt gefoltert und schließlich hingerichtet. Nachdem Herzog Ulrich seinen Stallmeister und Freund Hans von Hutten hinterrücks ermordet hatte, befürchtete er, beim Kaiser von den Landständen angeklagt zu werden und wollte dem durch diesen Willkürakt zuvorkommen.

Im Tübinger Schloss fanden die Schlussverhandlungen zum Tübinger Vertrag statt.

 Eingang zum Schloss Hohentübingen

B 8 Eingang zum Schloss Hohentübingen
© Ulrich Maier

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Stuttgart -

letzte Änderung: 2014-08-10