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Fazit: Die Praxis der Wiedergutmachung am Beispiel Mannheims

Welche Grenzen und Mängel ein Verfahren hatte, in dem es stets darum ging, individuelle Ansprüche zu belegen und in dem die Antragsteller durchaus einen langen Atem brauchten und Kraft, um sich vor Gericht ihr Recht zu erstreiten, wird bei Fällen wie dem von Lore Rosenzweig besonders deutlich. Wie viele andere, die in den 1930er Jahren noch Kinder gewesen waren und die später ihre ganze Familie verloren hatten, konnte sie im Wiedergutmachungsverfahren kaum brauchbare Angaben machen, geschweige denn diese belegen. Weil sie sich zudem ohne Unterstützung eines Rechtsanwalts in jenen Wald von Paragraphen wagte, zu dem die komplexe Entschädigungsgesetzgebung herangewachsen war, wurde sie für das Unrecht, das ihr und ihrer Familie im Dritten Reich angetan worden war, kaum angemessen entschädigt. Gerecht war das nicht.


Abgesehen davon beruht die negative Einschätzung der Rückerstattung zu einem Großteil auf unserer heutigen Sichtweise, nach der die Arisierung ein gewaltiges Unrecht war und mehr als alles andere deutlich macht, wie sehr das NS-Regime ein System war, das von vielen getragen wurde und von dem viele profitierten. Kurz gesagt: Heute gilt die Arisierung als eine gigantische Raubaktion, bei der die allermeisten Ariseure Schuld auf sich geladen haben. Doch ob es einem gefällt oder nicht: Dies war nicht die Sichtweise der 1940er und 1950er Jahre. Denn in dieser Zeit galt das, was im deutschen Namen den Juden angetan worden war, ihre finanzielle Ausplünderung und die physische Vernichtung, vielen nicht als in der Geschichte beispielloses Verbrechen, sondern als ein Unrecht neben vielen anderen, neben der Vertreibung der Deutschen oder den Bombardierungen durch die Alliierten. Die Deutschen sahen sich in ihrer Mehrheit eben nicht als Mittäter, Mitwisser oder Profiteure des NS-Systems, sondern als dessen Opfer. Auch wenn man es sich heute angesichts der Dimensionen der NS-Verbrechen und der individuellen Verstrickung vieler Tausender vielleicht anders wünscht: Aus dieser Haltung heraus konnte es bei vielen Rückerstattungspflichtigen unmittelbar nach dem Krieg keine Reue geben, keine Empathie für die jüdischen Verkäufer und keinen Willen, etwas wieder gut zu machen.
Jenseits der — durchaus verständlichen — moralischen Empörung über die mangelnde Einsicht manch eines Ariseurs im Rückerstattungsverfahren ist festzuhalten, dass die Restitution zumindest in einer Hinsicht ein Erfolg war: Nach jenen ersten Hilfsmaßnahmen vor Ort in Deutschland, den Kleiderspenden oder den Entschädigungen für die KZ-Haft, floss nun zum ersten Mal in größerem Umfang Geld, bekamen die ihrer Existenz beraubten Juden die so bitter nötigen Mittel.


Wir geben gern - Plakat zur Wiedergutmachung der Landesregierung NRW, 1947
"Wir geben gern" - Plakat zur Wiedergutmachung der Landesregierung NRW, 1947
Quelle: Justizakademie NRW/Villa Ten-Hompel, Münster

Daneben haben die Arbeiten der letzten Jahre, die ersten konkreten Fallstudien zur Entschädigung in der Praxis, vor allem eines gezeigt: Wie unterschiedlich die Wiedergutmachung auch nach Verabschiedung bundesweit gültiger Entschädigungsgesetze vor Ort gehandhabt wurde. Dies auch für die Sachbearbeiter in Karlsruhe zu behaupten, ginge zu weit, denn Fälle, in denen klare Belege vorlagen, bearbeiteten sie in der Regel nach bestem Gewissen und gewährten den Antragstellern mehr oder weniger reibungslos entsprechende Entschädigungszahlungen. Freilich gab es auch hier kleinliche, engherzige Entscheidungen, getroffen offenbar in dem Bestreben, bloß keine einzige Mark zu viel auszuzahlen. Grundsätzlich anders sah es indes aus, wenn einzelne Umstände der Verfolgung Jahrzehnte später nur schwer oder gar nicht mehr zu beweisen waren, wie etwa die Repressionen gegen jüdische Kaufleute und Selbstständige in den Jahren unmittelbar nach der Machtergreifung, die Zerstörung einzelner Gegenstände während des Novemberpogroms oder die Zahlung von Geldern an Schleuser. Denn statt den Aussagen der jüdischen Verfolgten Glauben zu schenken, versuchte das Landesamt für Wiedergutmachung auf zum Teil völlig absurde Art und Weise, irgendeinen Beweis zu finden. Erinnert sei etwa an die Nachforschungen zur Schulpflicht in polnischen Ghettos oder an die Vernehmungen von Zeugen zur Wohnungseinrichtung ihrer vor Jahrzehnten emigrierten jüdischen Nachbarn. Diese im negativen Wortsinn bürokratische Vorgehensweise brachte nicht wenige Antragsteller und ihre Anwälte in Rage. Schließlich standen hinter den pedantischen, überkorrekten Nachfragen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der jüdischen Opfer, und genau dies enttäuschte die vom NS-Regime Verfolgten.
Jenseits der zum Teil kleinlichen Einzelentscheidungen des Landesamts für Wiedergutmachung in Karlsruhe war die Entschädigung für die jüdischen Opfer aus Mannheim oft jedoch eine wichtige materielle Hilfe für das Leben nach der Verfolgung. Natürlich: Die Zeit konnte nicht zurückgedreht werden, ihr altes Leben in Deutschland war verloren, und das Unrecht, das sie erlitten hatten, konnte nicht ungeschehen, nicht „wieder gut gemacht" werden. Oft blieb der Riss im Leben — trotz der Zahlungen aus Deutschland. Doch immerhin: Die Entschädigungsleistungen konnten finanzielle Notlagen lindern, sie ermöglichten den Verfolgten selbst medizinische Behandlungen und ihren Kindern eine angemessene Ausbildung. Viel war das nicht, aber eben auch nicht wenig. Nicht wenig war es vor allem dann, wenn man bedenkt, dass nach 1945 drei Staaten auf dem Territorium des Deutschen Reichs entstanden waren und dass von diesen drei Ländern nur eines die Verantwortung für das übernahm, was im deutschen Namen an Unrecht und Leid Tausenden angetan worden war. Anders als die DDR und Österreich duckte sich die Bundesrepublik nicht unter der Schuld weg, sondern bemühte sich zumindest, die Opfer des Nationalsozialismus zu entschädigen. Jenseits dieses guten Willens auf politischer Ebene stimmte dabei in der Praxis vieles nicht. Die Gesetze selbst hatten Fehler und Lücken, und bei ihrer Umsetzung zeigten sich die Behörden vor Ort oft nicht großherzig und großzügig. Freilich muss bei all der berechtigten Kritik an der bundesdeutschen Entschädigung auch die Frage erlaubt sein, wie denn sonst tausendfaches Unrecht hätte entschädigt werden sollen, wenn nicht mithilfe eines bürokratischen Prozesses, mithilfe von Anträgen und Bescheiden und nicht zuletzt mithilfe von Sachbearbeitern, die, als Teil einer staatlichen Verwaltung, bürokratisch agierten, und das hieß nicht selten eben auch: penibel und kleinlich.


Zitiert nach: Christiane Fritsche, Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt - Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim, Ubstadt-Weiher 2013, S. 660, 880-82 (mit Auslassungen).


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