Herausforderung Bildungssprache

Bildungssprache ist kognitiv anspruchsvoll: Präzision, Abstraktion, Komplexität, Fachvokabular

Material im Aufbau

Bildungssprachliche Texte sind anspruchsvoll und Kinder und Jugendliche müssen an die Rezeption und Produktion dieses sprachlichen Registers schrittweise herangeführt werden, damit sie die Lerngegenstände angemessen erfassen, reflektieren und adressaten- und sachgerecht wiedergeben können. Bildungssprachliche Merkmale wie Fachbegriffe und das Darstellen von nicht präsenten Ereignissen und Gegenständen spielen schon in der Grundschule eine wichtige Rolle, wenn auch der Grad der Abstraktion noch niedrig ist und grammatikalisch noch nicht so komplex formuliert wird. Der nachfolgende Abschnitt zeigt eindeutig einige Merkmale von Bildungssprache, wie sie aber nicht immer gleichzeitig in einem kurzen Abschnitt stehen.

Beispiel: Achtung Bildungssprache!

Eine hohe Informationsdichte, die sich in verschachtelten Sätzen, langen, mit vielen Attributen versehenen Nominalphrasen, präzisen logischen Konnektoren, einer hohe Zahl von Verweiswörtern, Passivkonstruktionen, unpersönliche Konstruktionen, Genitivattributen, Komposita, Fremdwörtern, Fachtermini auch in Hybridbildung zeigt, sind Phänomene in Fachtexten, wie sie auch in Schulbüchern auftauchen. Sie sind notwendig, um einen Sachverhalt in seiner Komplexität präzise, unabhängig von der Präsenz des Gegenstandes und im Falle von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten häufig auch allgemeingültig darzustellen. Oft setzen sie Vorwissen voraus, das kulturell geprägt ist, was besonders augenfällig ist, wenn man z. B. das Thema Metaphorik betrachtet. Es sind also nicht nur Fachtermini, die Gegenstand der sprachlichen Vermittlung im Fachunterricht sind, die Texte sind auch formal komplex  (s. Viele Sprachen – eine Schule/Kapitel 3.2.2).


Um damit bewusst und produktiv umzugehen, ist es zum einen notwendig, dass die Lehrkraft die sprachlichen Herausforderungen ihrer Fachsprache kennt: Welche sprachliche Besonderheiten gibt es in meinem Fach, die die Schüler und Schülerinnen nicht mitbringen? Zum anderen ist sie dazu aufgefordert, die sprachlichen Herausforderungen in ihren Unterricht als Lernziele aufzunehmen und mit ihren didaktischen Entscheidungen die Schülerinnen und Schüler bei der Aneignung dieses Registers zu unterstützen (siehe auch Sprachsensibler Fachunterricht).


Kurze Charakterisierung naturwissenschaftlicher Fachsprache mit Beispielen

Kurze Charakterisierung geisteswissenschaftlicher Fachsprache mit Beispielen 

Links und Literatur zur Vertiefung



Kurze Charakterisierung naturwissenschaftlicher Fachsprache mit Beispielen
Da in den Naturwissenschaften Gesetzmäßigkeiten entdeckt und dargestellt werden, zeichnen sich ihre Fachsprachen durch ein hohes Maß an Allgemeingültigkeit aus, das formal besonders durch unpersönliche Formulierungen und Passivkonstruktionen erreicht wird. Ein Phänomen muss unabhängig von einem Individuum, einem Experimentator, einem Beobachter unter gleichen Umständen gültig und wiederholbar sein. Gerade für jüngere Schülerinnen und Schüler ist es kognitiv noch schwierig, von einer handelnden Person, einem Agens, zu abstrahieren, weil sie ihre Umgebung noch sehr stark konkret und auf sich bezogen wahrnehmen.

Beispiel:

In Formulierungen wie 

„Nimmt die Zahl der Jäger zu, vermindert sich die Zahl der Beutetiere.“ 


können sie schwer den logischen Zusammenhang (wenn …, dann) erkennen, da er gar nicht verbalisiert wird, sondern nur durch die Syntax ausgedrückt wird. Auch die Handlung selbst und den Auslöser der Handlung machen sie bei dieser Passivkonstruktion nur schwer aus.
Das Passiv birgt zusätzlich ein hohes Potenzial an Missverständnissen, weil es zu Verwechslungen von Präsens Passiv mit dem Futur I Passiv kommt, da sie das gleiche Hilfsverb „werden“ verwenden:

Beispiel:

 

L: Der Widerstand wird zugeschaltet. (Präsens Passiv)

S: Und wann? (interpretiert fälschlicherweise als Futur I Passiv, das eigentlich „Der Widerstand wird zugeschaltet werden.“ lauten müsste. Dann wäre die Frage nach dem Wann auch passend.)


Nicht nur Morphologie und Syntax, auch die Semantik bietet Herausforderungen. Innerhalb einer naturwissenschaftlichen Fachsprache hat ein Terminus zwar meist die gleiche Bedeutung. Semantisch schwierig ist aber die Abgrenzung zur Alltagssprache. Viele Begriffe aus der Alltagssprache haben in der Fachsprache eine andere Bedeutung. (siehe auch die Ausführungen zur akademischen Bildungssprache in Ziel: Bildungssprache)

Beispiele:

 

  • Winkel            in der Geometrie (mathematische Fachsprache); 
                          als Ecke oder Nische in einem Raum (Alltagssprache);
  • Widerstand     als elektrischer Widerstand (Elektrotechnik, Physik);
                          als Abwehren eines Zwangs (Alltagssprache)


Oder sie haben in verschiedenen Fachsprachen verschiedene Bedeutungen.  

Beispiele:

 

  • Winkel            als Kennzeichnung von Gefangenen in den KZs des 3. Reichs (Geschichte);
                          metaphorisch für einen abgelegenen Ort Gegend (Literatur);
  • Widerstand     als politische Bewegung (Geschichte); 


Hier gilt es die Bedeutungsunterschiede ganz bewusst aufzuzeigen, damit sich die mentalen Konzepte aus den verschiedenen Kontexten nicht vermischen.

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Kurze Charakterisierung geisteswissenschaftlicher Fachsprache mit Beispielen
Blickt man in die geisteswissenschaftlichen Disziplinen, so fällt auf, dass diese sich mit komplexen Zusammenhängen beschäftigen, die z. B. nach Ursache und Folgen rekonstruiert werden müssen. Logische Zusammenhänge durch Konnektoren (z. B. weil, daher, obwohl, aber, ...) und klares Aufgreifen von zuvor genannten Gegenständen durch passende verweisende Wörter (z.B. Pronomen) sind dafür zentral, weil sonst die inhaltliche Kohärenz leidet.

Beispiel: Thema Hexen, Klasse 4

L: Früher glaubte man an Hexen und dass sie böse seien, und man hat sie deswegen verbrannt. Viele tausend Frauen hat man so umgebracht.

S1: Vielleicht waren sie nur nicht arg beliebt oder hässlich, weil (unpassender Konnektor) man sie umgebracht hat.

L: Würdest du jemanden umbringen, weil er unbeliebt oder hässlich ist? (Reaktion: korrektives Feedback)

S2: Nein. Vielleicht waren das welche, vor denen man Angst gehabt hat. Die (mangelnde Kohärenz durch unklaren Verweis) haben vielleicht nur gedacht, die können zaubern. Aber das war gar nicht so.

L: Haben die Frauen selbst gedacht, dass sie zaubern können? Oder meinst du, dass die Leute das geglaubt haben? (Reaktion: Nachfrage)


Gerade in der Geschichte sind abgesehen von abstrahierenden Geschichtsmodellen die besprochenen Ereignisse häufig nicht von wiederkehrenden Regelmäßigkeiten bestimmt und können somit nicht formelhaft ausgedrückt werden wie in der naturwissenschaftlichen oder mathematischen Fachsprache. Das würde zu unzulässigen Verallgemeinerungen führen. 

Beispiel: Das funktioniert nicht.

Ist Willy Brandt in Erfurt, schaut er aus dem Hotelfenster. 


Meist geht es wie auch in der Literatur um Einzelereignisse, die für sich genommen so außergewöhnlich sind, dass man sie näher analysiert und dekonstruiert. Kausale und zeitliche Abfolgen sind bedeutsam. Somit zeigt sich auch hier wie in den naturwissenschaftlichen Fachsprachen das Passiv im Präsens und Futur I als formale Herausforderung. Umgangssprachlich wird hier oft kein Unterschied gemacht und Lernenden ist die Form aus der Alltagssprache meist nicht vertraut, da statt Futur I das Präsens mit Zeitadverb benutzt wird:

Beispiel: (aus einer UE Deutsch „Die Schatzinsel“ von R. L. Stevenson, Klasse 7): 

L: Und was geschieht mit Jim Hawkins? Das ist doch eine gefährliche Situation.

S: Er wird von Ben Gunn gerettet.

L: Aber da doch noch nicht wirklich. Erst später, oder?

S: Ja, später, natürlich. Ben Gunn und die anderen retten ihn doch am Schluss.

L: Wenn du das aufschreibst, dann musst du genauer sein. Da kann ich nämlich nicht nachfragen. So hätte man meinen können, Ben Gunn würde in die Hütte kommen und Jim retten. Wir haben ja eigentlich gerade von der Hütte gesprochen. Du schreibst dann: „Jim wird am Ende von Ben Gunn gerettet werden.“ Denn das passiert ja erst in der Zukunft, also später.

S: Das klingt aber komisch. Da ist doch was zuviel.

„Er wird gerettet.“  = Präsens Passiv, „Er wird gerettet werden.“ = Futur I Passiv. Es entsteht ein Missverständnis über den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse. (s. auch Viele Sprachen – eine Schule/Kapitel 5.1.)

 

Innerhalb einer Fachsprache oder auch in verschiedenen Fachdisziplinen können dieselben Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben. Es gibt also oft keine semantische Konstanz.

Beispiele:

  • „die Herrschaft“. Sie beinhaltet im Kontext des Mittelalters ein völlig anderes Konzept als in der Gegenwart. Vor allem bei einer synchronen Betrachtung, muss also sprachlich auf Differenzierung geachtet werden.
  • „Diäten“ haben als Tagesration und als Tagesgeld den gleichen lateinischen Ursprung, bezeichnen aber in der Ernährung und in der Politik zwei unterschiedliche Dinge.


Dazu kommt noch, dass wie in den Naturwissenschaften Wörter oft aus der Alltagssprache entliehen werden, aber andere Zusammenhänge bezeichnen.

Beispiele:

  • „der Herd“, der im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit auch „das Haus, die Wohnstatt“ bedeuten kann, oder
  • „der Hausmann“, der zu dieser Zeit ein Bauer mit einer eigenen Hofstelle ist. Gerade wenn junge Schülerinnen und Schüler im Anfangsunterricht Geschichte sich in der Genealogie versuchen, stoßen sie in Ortssippenbüchern auf diesen Begriff: „Hausmann mit einem ½ Herd“.
  • „Das Misstrauen aussprechen“ kennt man aus der Alltagssprache. Politologisch steht es im Sinne des „Misstrauensvotums“ für einen ganzen Apparat an Maßnahmen, die zur Machtsicherung oder auch zum Machtentzug genutzt werden können. Hier kann ein Ausdruck sogar einen ganzen komplexen Zusammenhang dazubekommen.

 

Im Fachzusammenhang geht es nicht um das Erzählen von Alltagsphänomenen, sondern oft auch um die Darstellung abstrakter gesellschaftlicher Konzepte (z. Bsp. Kapitalismus), Theorien (z.B. Marx‘ „Klassenkampf“) oder Modelle (z.B. Feudalismus). Das bedeutet also, dass die beiden Register klar voneinander unterschieden werden müssen und dazu noch Bedeutungsklärungen abstrakter Wörter kommen, die teilweise Fremdwörter sind oder auch Metapher enthalten.

In dieser ganzen geschilderten Komplexität darf man nicht nur Hürden sehen, sondern vielmehr eine Chance: Die Schülerinnen und Schüler sind einem hohen sprachlichen Niveau ausgesetzt, welches ihnen jedoch mit ermutigender und motivierender Unterstützung Chancen bietet, informierte und interessante Gesprächspartner zu werden, indem sie Bildungssprache erwerben.
(Zur mathematischen Fachsprache s. Viele Sprachen – eine Schule/Kapitel 5.3)       

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Links und Literatur zur Vertiefung
Gogolin, I. et al. (Hrsg.) (2013): Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert. Waxmann. Münster

Landesinstitut für Schulentwicklung (Hrsg.) (2016): Viele Sprachen – eine Schule, Stuttgart, Kapitel 5

Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM): Sprachsensibler Fachunterricht. Handreichung zur Wortschatzarbeit in den Jahrgangsstufen 5–10 unter besonderer Berücksichtigung der Fachsprache. Berlin 2013

Schmölzer-Eibinger, S. (o.J.): Textkompetenz, Lernen und Literale Didaktik.
Online abrufbar hier

Schmölzer-Eibinger, S. et al. (2014): Sprachförderung im Fachunterricht in sprachlich heterogenen Klassen. Fillibach bei Klett. Stuttgart.

Weis, I. (2013): DaZ im Fachunterricht. Sprachbarrieren überwinden – Schüler erreichen und fördern. Verlag an der Ruhr. Mülheim an der Ruhr

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