Mehrheitsfraktion und Kontrolle

Das Verhältnis der Abgeordneten der Koalitionsfraktion zur Regierung ist von einem besonderen Spannungsverhältnis geprägt. Sie haben zwar nach dem Buchstaben des Grundgesetzes ein Kontrollrecht der Regierung gegenüber, sie würden aber die Arbeit der Regierung blockieren und dadurch eine Krise heraufbeschwören, wenn sie der Regierung ihre Zustimmung verweigerten. Kritiker sagen, dadurch gehe ihre Kontrollfunktion, eine der Kernfunktionen des Parlaments, verloren.

Im Einzelnen sind zur Erläuterung dieses Spannungsfelds folgende Punkte zu berücksichtigen:

  • Die Regierung ist in ihrer Arbeit auf den parlamentarischen Rückhalt der Mehrheitsfraktion bzw. der Koalitionsfraktionen angewiesen; sobald diese ihr die Mitarbeit verweigern, stünde eine Regierungskrise ins Haus (Misstrauensvotum). Bei Abstimmungen folgt daher die Mehrheitsfraktion regelmäßig der Regierung.
  • Auch Gesetzesinitiativen gehen von dieser Seite meist aus einer Abstimmung zwischen Koalition und Regierung hervor, was bedeutet, dass sie, sobald sie von dieser Seite her eingebracht werden, erfolgreich sind.
  • Der einzelne Abgeordnete erscheint politisch ohnmächtig und einflusslos, da seine Mitwirkungsmöglichkeiten an die Fraktion geknüpft sind. Diese Orientierung auf die Fraktion wird durch die „Herrschaftsverhältnisse“ innerhalb der Fraktion - „Oligopolisierung“, „Spitzenfunktionäre“ - noch verstärkt. Das allerdings ist nicht auf die Koalitionsparteien beschränkt.
  • Auch innerhalb der Ausschüsse, die (unabhängig von der Besetzung des Vorsitzes) nach dem Proporzsystem gemäß der Stimmenverteilung im Plenum zusammengesetzt sind, folgen die Abgeordneten der Regierungskoalition eher der Linie der Regierung als der der Opposition.

Diese Darstellung gilt allgemein als einseitig und scheint die Voraussetzungen und die Möglichkeiten zu verkennen, die in diesem System auf anderen Ebenen liegen. In dieser Kritik wird lediglich die „öffentliche“ Parlamentsarbeit gesehen, nicht aber die außerhalb der Pole Regierungskoalition - Regierung verlaufenden Strukturen von „checks and balances“ des Grundgesetzes.

Sie hat nun in der Vergangenheit Schützenhilfe durch die Parteiführung der SPD erhalten, als SPD-Generalsekretär Franz Müntefering nach der Abstimmungsniederlage im Bundestag bei der Mazedonien-Entscheidung im August 2001 äußerte, ein solches Abstimmungsverhalten sei für eine Regierungspartei nicht akzeptabel. Auch der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck kündigte den 19 Abweichlern in seiner Partei, die gegen den Mazedonien-Einsatz gestimmt hatten, - und die im Grunde ihrer verfassungsgemäßen Gewissensentscheidung gefolgt waren – Konsequenzen an.

Dennoch muss die Gegenposition, die sich auf vier wesentliche Punkte beschränken kann, erläutert werden:

  • Die verfassungsmäßige Bindung des Bundeskanzlers und der Regierung an die Mehrheitsfraktion im Bundestag erfordert geradezu die von ihr kritisierte Einigkeit. Kontrolle und Kritik finden daher selten in der Öffentlichkeit des Plenums statt, sondern in den Beratungen der Fraktion, wo auch Gesetzesinitiativen so formuliert werden, dass im Plenum keine Auseinandersetzung mehr zwischen Regierung und Koalition notwendig ist. Dazu kommt, dass solche Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit nicht als fruchtbarer Interessenausgleich, sondern als überflüssiges Gezänk verstanden werden.
  • In den Ausschüssen wird trotz ihrer festgelegten Zusammensetzung die „eigentliche“ Parlamentsarbeit geleistet, „ungestört“ von der Öffentlichkeit - und in bestimmten Bereichen auch unter dem Vorsitz eines Mitglieds der Opposition.
  • Die Kontrollfunktion ist auf die parlamentarische Opposition und andere Staatsorgane verlagert, auf Bundesrat und Bundesverfassungsgericht.
  • Die Kontrollfunktion der Opposition darf jedoch nicht allein an der politischen Durchsetzung ihrer Vorstellungen gemessen werden. Im Zeitalter der öffentlichen Diskussion hat die Opposition vom ersten Tag des Parlamentsarbeit an die Möglichkeit, ihre Standpunkte medien- und damit öffentlichkeitswirksam zu vertreten und gewissermaßen von da an mit dem Wahlkampf für die nächste Wahl zu beginnen („Nach der Wahl ist vor der Wahl“).

Schließlich muss anhand anderer Entscheidungsprozesse innerhalb des Bundestages darauf hingewiesen werden, dass gerade bei sehr strittigen Einzelfällen die Fraktionen von einer Bindung an die Fraktionsdisziplin abgesehen haben, um den Abgeordneten eine echte Gewissensentscheidung zu ermöglichen.