6. Jh. v. Chr. Stilgeschichtliche Entwicklung der Kore

Mädchenstandbild im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr.

Die Entwicklung des Bildtypus der bekleideten Kore

Neben dem Bildtypus des nackten Jünglings (Kuorus), entwickelte sich parallel der Figurentyp des bekleideten Mädchens (Kore). Auch dieser Figurentyp hat sich Mitte des 7. Jahrhundert v. Chr. ausgebildet und veränderte sich im 6. Jahrhundert. Der Wandel fällt, durch die variierende Gestaltung des Gewandes, stärker ins Auge.

Die ionischen Städte  hatten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhundert eine hohe Blüte und waren durch den Überseehandel sowie die gewerbliche Produktion zu einem Wohlstand gelangt. Schnell überflügelten sie das griechische Mutterland. Milet, Ephesos und Samos wirkten als ionische Zentren gesellschaftliche Veränderungen, die wegweisend sein sollten/wurden. Beispielsweise lebte  Thales,  der erste Philosoph des europäischen Abendlandes, in Milet.

Als die Lyder und Perser die ionischen Städte unterwarfen, wurde ihre Weiterentwicklung gehemmt. Athen wurde dadurch das gesellschaftliche und kulturelle Zentrum der Griechen. Hier hatte Peisistratos als Tyrann die Macht an sich gerissen. Innenpolitisch gab es gewaltige Auseinandersetzungen, wobei Peisistratos sich behaupten konnte. Er unterhielt Kontakte zu den ionischen Städten in Ostgriechenland und führte in Athen die verfeinerte Lebensart der Ostgriechen ein. Somit wurde die Kunst stark von den ionischen Einflüssen geprägt, welche sich deutlich am Figurentyp der Kore ablesen lassen.

 Frau von Auxerre  Berliner Göttin  Hera des Cheramyes  Peplos Kore  ionische Kore (Chios Kore)

 

Am Anfang dieser künstlerischen Entwicklung steht beispielhaft die überlebensgroße Kalkfigur (sog. Frau von Auxerre, Mitte 7. Jh. v. Chr.). Wahrscheinlich wurde hier eine Gottheit dargestellt, die durch ihre formale Strenge eine im Körper gebündelte Kraft zum Ausdruck bringen sollte. Dieses gestalterische Streben wird sowohl in der Ganzheit der Figur, als auch im Detail deutlich:

Sie entstand ungefähr zur gleichen Zeit, wie der Kuorus von Delphi. Die Kore wurde von einem dorischen Meister gestaltet. Sie steht in einer strengen Haltung mit geschlossenen Füßen vor uns.  Ihr Körper ist von einem, bis zum Boden reichenden, Gewand verhüllt. Dieses Kleidungsstück wird in der Taille von einem breiten Gürtel gehalten. Der Körper ist dabei eng umschlossen. Ein schleierartiger Umhang bedeckt die Schulterpartie. Der linke Arm ist senkrecht nach unten gestreckt. Die Handfläche ist flach auf den Oberschenkel gelegt (gepresst). Durch diese strenge vertikale Haltung wird die Kurvenspannung der Hüfte, der Taille und der Brustpartie verstärkt.

Der rechte Arm ist fast rechtwinklig im Ellenbogengelenk vor dem Körper angewinkelt. Das Gesicht wird von herab wallendem Haar eingerahmt. Die derben und strengen Gesichtszüge unterstreichen die dorische Herkunft.

Eine (vielleicht) kleine Schwester des Kuorus von New York stellt die Berliner Göttin dar. Die Figur ist sehr schlank. Diese Körperform wird durch die vertikal verlaufenden Gewandfalten noch verstärkt. Diese Vertikalfalten brechen sich in der Schulterpartie. Hier wird die Horizontale betont. Es entsteht eine Wechselspiel zwischen dem schmalen Gesicht, dem schlanken Hals, der horizontal ausgerichteten Schulterpartie und der Vertikalfalten des Gewandes. Ebenso bildet die Taille eine Zäsur.

Im Vergleich zur Frau von Auxerre ist die Berliner Göttin im Bereich des Gesichtes stärker differenziert. Das schmale Gesicht und die Bearbeitung des Gewandes deuten auf eine Entstehungszeit im ersten Viertel des 6. Jahrhunderts v. Chr. hin. Ähnlichkeiten zum New Yorker Kuorus lassen sich auch im Bereich der großen, strahlenden Augen und der überhohen Stirnpartie erkennen. Es handelt sich hier um das Werk eines attischen Künstlers. 

Die Berliner Göttin und der Kuorus von New York sind in ihrer Formensprache und künstlerischen Gestaltung eleganter und schwelgender ausgeführt (attisch), als die Figuren der dorischen Meister, die vielmehr durch ihre bäuerliche Robustheit bestechen.

Die Hera des Cheramyes entstand in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr.. Die ionische Figur hat keinen tektonischen Aufbau, vielmehr wirkt der Frauenkörper säulenartig rund. Die Gliederung der Figur ist sehr zurückhaltend ausgeführt. Ein schwerer wollartiger Mantel umschließt die Schulterpartie und fließt scheinbar, zu beiden Hüften hin, ab.  Das Obergewand ist durch fließende Linien konturiert. Der ionische Meister hat den Konturen leichte Schwingungen gegeben, die einen gewissen subtilen Reiz ausstrahlen. Das Untergewand wirkt, gegen das schwerere mantelartige Obergewand, fein plissiert.

In dieser Kontrastierung drückt sich eine verfeinerte Lebensart der ionischen Städte aus, die sich wesentlich von der robusten und urwüchsigen dorischen Art unterscheidet, sich aber auch von der geistig disziplinierten attischen Kunstdarstellung abhebt. 

In den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurden auf der Akropolis eine große Anzahl von Mädchenfiguren als Weihgeschenke für die Stadtgöttin Athene aufgestellt. Der gute Erhaltungszustand der Figuren geht auf den Umstand zurück, dass Athen während der Perserkriege zweimal zerstört wurde (480 und 479 v. Chr.). Die Figuren wurden bei der Zerstörung von ihren Sockeln gestoßen. Anschließend wurden sie nicht rekonstruiert, sondern als Füllmaterilal beim Wiederaufbau Athens verwendet. In diesem “Perserschutt“ überdauerten die Figuren in ihrem relativ guten Erhaltungszustand.

Am Anfang dieser Reihe steht die sogenannte Peplos-Kore. Sie wurde nach dem Peplos benannt, den sie trägt. Der Peplos ist ein rechteckiges Wolltuch, das einfach röhrenförmig, an der rechten Seite offen, Um den Körper gelegt wurde. Das obere Drittel wird umgeschlagen.  Die Fibeln (Gewandnadeln) halten das Kleidungsstück an der rechten und der linken Schulter. Es war ein alltägliches Kleidungsstück der griechischen Frau auf dem Festland. Die ionischen Frauen trugen gern luxuriösere Gewänder aus dünnen Leinen, den sogenannten Chiton, darüber einen Wollmantel (vgl. Hera des Cheramyes).

Die Peplos-Kore wirkt wie eine jüngere Schwester der Berliner Göttin. Sie ist etwa 50 Jahre später entstanden. Ihre Körperform ist voller und weicher gestaltet. Die Umrisse sind runder und ineinander fließend. Auch die Gesichtszüge wirken sanfter. Die Peplos-Kore vertritt die gleiche künstlerische Entwicklungsstufe, wie der Grabkuorus von Anavysos. Die figurative Gestaltung hält sich die Waage mit den eigengewichtigen Differenzierungen der Oberfläche, die farbig gefasst war.

Im ausgehenden 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden Koren, deren künstlerischer Reiz besonders durch die reich gestalteten Gewänder und die diffizile Modellierung der Gesichter zum Ausdruck kommt. Diese manierierte Form traf den Geschmack des griechischen Adels. Ein Beispiel für diesen Figurentypus ist die Akropolis-Kore (vgl.: Chios Kore), entstanden auf der Insel Chios. Sie ist in ionischer Tracht dargestellt und strahlt modischen Glanz aus. Über dem plissierten Chiton trägt sie ein schräges Mäntelchen, welches reichhaltig gefaltet ist. Die farbige Fassung des Originales wird die opulente Wirkung noch gesteigert haben. Es wird Reichtum und Eleganz zum Ausdruck gebracht. Diese Wirkung schwingt auch in der kapriziösen eleganten Haltung der linken Hand mit. Die rechte Hand präsentierte wahrscheinlich ein Weihegeschenk.

Unter dem Gewand zeichnet sich deutlich der weibliche Körper ab. Eine erotische Ausstrahlung ist nicht zu leugnen. Die Brüste sind voll gerundet und üppig dargestellt. Die aufwändig gestaltete Frisur war im damaligen Leben vermutlich das Werk einer „Kammerzofe“ (Haussklavin). Die Haare sind geordnet und werden durch ein Diadem zusammengehalten. Besonders reizvoll ist das Gesicht dieser spätarchaischen Kore. Die Augen sind mandelförmig und schräg gestellt. Eingerahmt werden sie von flachen Augenbrauen. Diese setzten sich in der Nasenkontur fort. Das Jochbein ist hervorgehoben und weich gewölbt. Die sinnlichen Lippen sind zum archaischen Lächeln gehoben. Das Kinn wirkt fein durchmodelliert. Die manierierte Figur stahlt den  „Sinnesgenus“ der Spätarchaik aus.

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Literatur:

  • Detlef Lotze (2017): Griechische Geschichte: Von den Anfängen bis zum Hellenismus. C.H.Beck Verlag
  • Ernst Hövelborn (2017): Verkörperungen. Griechische Antike - Antony Gormley. BDK Fachverband für Kunstpädagogik. Landesverband Baden-Württemberg
  • Margot Michaelis (2002): Plastik - Objekt - Installation. Ernst Klett Schulbuchverlag. Leipzig Stuttgart Düsseldorf
  • Hans Baier (1988): Stilkunde. Seemann Verlag. Leipzig
  • Gerhard Zinserling (1977): Abriß der griechischen und römischen Kunst. Reclam Verlag. Leipzig

Urheber: Quelle: Abriß der griechischen und römischen Kunst, G. Zinserling, 1977, S.354-361

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