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Martin Ulmer: Wie wirksam sind Gedenkstättenfahrten gegen Antisemitismus?

Derzeit werden in der Öffentlichkeit hohe Erwartungen an Besuche und Fahrten zu Gedenkstätten zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen gestellt. Sie sollen in wenigen Stunden präventiv wirken oder gar gegen Antisemitismus immunisieren oder diesen sogar „heilen“. Durch Lernen an Gedenkorten sollen auch andere tiefgehende gesellschaftliche Fehlentwicklungen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und antidemokratisches Denken überwunden werden und eine Auseinandersetzung mit rassistischen und antisemitischen Vorurteilen und autoritärem Denken stattfinden.

Auf der anderen Seite sind bestimmte Aspekte von Gedenkstättenfahrten immer wieder Anlass von Kritik. Neben dem prinzipiellen Einwand, der die Sinnhaftigkeit des Lernens für heute an historischen Gedenkorten der Shoah grundsätzlich in Frage stellt, gibt es auch immanente Kritik, die Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Gedenkstättenarbeit für die Prävention gegen Rassismus und Antisemitismus stellt.  

  • Was können und sollen Gedenkstätten gegenüber den unterschiedlichen Zielgruppen leisten?
  • Sollen rechtsextreme Personen angesprochen werden, oder sogenannte indifferente oder bereits sensibilisierte Besucherinnen und Besucher?
  • Ist es in einer pluralen Gesellschaft überhaupt möglich, solche universellen und weitreichenden Ansprüche wie Menschenrechtserziehung an die Gedenkstätten zu stellen, ohne die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge und kulturellen Verankerungen einzubeziehen?

Gedenkstätte KZ Bisingen

Dieser Holzvogel wurde von Häftlingen des KZ Bisingen hergestellt, um ihn am Lagerzaun gegen Essen einzutauschen.

 

Darüber existieren in den Gedenkstätten sehr unterschiedliche Meinungen und zuweilen pädagogisch ungeeignete Bildungsangebote, die vor allem jüngere Zielgruppen nur unzureichend erreichen.  

Auch von Seiten der Schulen werden immer wieder hohe Erwartungen an Gedenkstättenbesuche geknüpft. Der Anspruch, durch eine gemeinsame Klassenfahrt die Schülerinnen und Schüler quasi gegen Antisemitismus zu immunisieren, verkennt, dass die Lernsituationen bei Lerngruppen komplex und bei einzelnen Schülerinnen und Schülern auch immer individuell sind. Da Schulveranstaltungen verpflichtend sind, kann es bei Schülerinnen und Schülern immer auch zu Abwehrhaltungen kommen, die im schlimmsten Fall Ressentiments noch verstärken und die gewünschten Lernerfolge bei der Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Stereotypen und autoritärem Denken eher behindern. Auch kann der moralisch aufgeladene Raum in einer Gedenkstätte bei einem Teil der Schülerinnen und Schüler eine soziale Erwünschtheit, statt einer eigenständigen Wahrnehmung und einer kritischen Auseinandersetzung, die auch Platz für abweichende Meinungen hat, erzeugen.

Die methodische Schlüsselfrage läuft darauf hinaus, ob historisches und politisches Lernen in den Gedenkstätten überhaupt vereinbar sind. Denn im Mittelpunkt des Besuchs einer Gedenkstätte steht die Anschaulichkeit des authentischen bzw. historischen Orts an der Gedenkstätte und das dort vermittelbare historische Wissen. Werden dort Aktualitätsbezüge nicht überstrapaziert? Der historische Ort in den Gedenkstätten dient hauptsächlich der Vermittlung der dortigen historischen Vorgänge, seiner Vor- und Nachgeschichte. Er kann durch Lernangebote exemplarisch das historische Bewusstsein für das politische und gesellschaftliche Funktionieren der NS-Diktatur und deren gravierende Folgen schärfen. Am historischen Ort gibt es Möglichkeiten, ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu fördern, um rassistische und antisemitische Ideologien der Ungleichwertigkeit und historische Mythen zu hinterfragen. Ein historisches Bewusstsein kann, muss aber nicht notwendigerweise ein stabiles Fundament zur Sensibilisierung gegenüber aktuellen Menschenrechtsverletzungen und Demokratiegefährdungen sein. Ob dies erreicht wird, hängt immer von der individuellen Verarbeitung historischen Wissens ab, die wiederum von Faktoren wie Sozialisation, der aktuellen persönlichen Situation usw. beeinflusst wird. Wo sich die begrenzten Chancen zum politischen Lernen ergeben, sollten diese in den Gedenkstätten aber aktiv genutzt werden.

Die folgenden Ausführungen sollen für grundlegende Fragen im Zusammenhang mit schulischen  Gedenkstättenbesuchen sensibilisieren und Reflexionshilfen bereitstellen, die für eine erfolgreiche Durchführung solcher Fahrten zentral sind. Fragen nach mit solchen Fahrten verbundenen (realistischen) Lernzielen sollten dabei genauso berücksichtigt werden wie die spezifischen schulischen Rahmenbedingungen.

Ehemalige Synagoge Hechingen: Himmel

 

Grundlagen des erfolgreichen Lernens durch Gedenkstättenbesuche

Besuche von Schulklassen in Gedenkstätten sind Schulveranstaltungen und haben keinen freiwilligen Charakter. Häufig sind solche Fahrten im Schulcurriculum festgeschrieben und die verantwortlichen Lehrkräfte bestimmen und planen die Besuche. Die bundesweiten Erfahrungen (unter anderem mit Schulklassen und Erwachsenengruppen wie z. B. Rechtsreferendarinnen und -referendaren, Pflegepersonal, Polizeiangestellten) zeigen, dass durch den verpflichtenden Charakter solcher Veranstaltungen häufig eine gewisse Skepsis auf Seiten der Teilnehmenden vorliegt. Wenn es hier unter den Besuchenden vorab eine Abstimmung gäbe, würde es bei absoluter Freiwilligkeit wahrscheinlich viel geringere Chancen auf einen Besuch geben. Häufig erfolgt jedoch ein positiver Wahrnehmungswandel während des Besuchs. Denn der Gedenkstättenbesuch ist in der Regel eine willkommene Abwechslung im Schul- oder Ausbildungsalltag. Die Praxiserfahrungen zeigen, dass Gedenkstättenbesuche bei den meisten Besucherinnen und Besuchern Neugierde und Interesse wecken, sofern sie eine Mitbestimmung der Auswahl der Lernorte haben und auf interessante Angebote während des Besuchs stoßen. Wenn diese Voraussetzungen, d. h. die Auswahlmöglichkeit und ansprechende Lernangebote gewährleistet sind, bestehen aus gedenkstättenpädagogischer Sicht keine Konflikte mit dem Prinzip der Freiwilligkeit.

Für schulische Gedenkstättenfahrten gilt es also, die Schülerinnen und Schüler so weit wie möglich in die Auswahl des außerschulischen Lernorts sowie in die Planung der Fahrt miteinzubeziehen. Auch ist es ratsam, transparent zu machen, dass die Fahrt zwar eine Schulveranstaltung (und somit verpflichtend) ist, aber dass die Ausgestaltung gemeinsam unter Mitwirkung der Lernenden erfolgen kann.

Grundsätzlich ist eine gute Vorbereitung und Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen notwendig. Erstens sollten die Fahrten zu KZ-Gedenkstätten und Synagogengedenkstätten in ein Unterrichtskonzept eingebunden sein. Die Lernenden benötigen vor dem Besuch ein Grundwissen über den Nationalsozialismus, sonst werden die historischen Orte unzureichend wahrgenommen und auch der Nationalsozialismus auf Ausschnitte oder Oberflächen reduziert. Zweitens schafft ein vorab orientierendes Wissen den notwendigen Verständnishorizont, in den sich die Verfolgung der KZ-Häftlinge oder die Verfolgung der Jüdinnen und Juden einbetten lassen. Dann gewinnen der historische Ort und die dort präsentierten Biografien, Exponate, Fotos und Dokumente die unmittelbare Anschaulichkeit der Verfolgung, werden Akteurinnen und Akteure in ihren Handlungsweisen plastisch nachvollziehbar und teilweise erfahrbar. Durch das partizipative Lernen wird das abstrakte Wissen durch lokale Veranschaulichung und eigene Beschäftigung in der Gedenkstätte vertieft und erweitert. Die Kombination von Schulunterricht und Gedenkstättenbesuch erzielt in der Regel einen höheren Lernerfolg.

Die erfolgreiche Basis für gelingende Gedenkstättenfahrten und Besuche besteht in der Vielfalt der Angebote und der echten Möglichkeiten der Partizipation. Nach einer ausreichenden Vorbereitung ist es hauptsächlich die Aufgabe der Gedenkstätten, dass Schülerinnen und Schüler sich dort direkt einbringen können. Nach einer zeitlich überschaubaren Führung (Input) sollten sich die Lernenden anhand konkreter Arbeitsaufträge mit Biografien, Videos, Fotos und Exponaten beschäftigen und anschließend ihre Ergebnisse kurz vorstellen. Eine reflexive Schlussrunde sollte immer eingeplant sein, sodass Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit haben, über ihre Eindrücke zu sprechen.

Um nicht nur das historische Lernen zu fördern, sondern auch das politische Reflektieren anzuregen, wäre der Ansatz einer lebensweltlichen Verbindung von der NS-Vergangenheit zur Gegenwart sinnvoll. Im Zentrum dieser Methode kann folgende Frage an die Schülerinnen und Schüler stehen: Was hat der Gedenkstättenbesuch mit meinem heutigen Leben zu tun? Die Frage löst – wie eigene Erfahrungen und die von anderen Gedenkstättenmitarbeitern zeigen – bei vielen ein ungewöhnliches Nachdenken und häufig lebhafte Diskussionen aus, für die ausreichend Zeit eingeplant werden sollte. Wichtig ist dabei, in die Gruppendiskussion nicht zu stark normativ und belehrend einzugreifen, sondern vor allem platte oder antisemitische Analogien (z. B. über falsche Lagervergleiche, gleiches Leben in Diktatur und Demokratie, Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus, Gleichsetzung von Shoah mit israelischer Politik) durch Informationen aufzuklären und Gegenposition zu beziehen. In einer Nachbereitung des Besuchs im Schulunterricht ist die Aufarbeitung der Eindrücke und die Klärung der offen gebliebenen Fragen sinnvoll, um das vermittelte Wissen zu sichern und zu vertiefen.

Jüdischer Friedhof, Horb-Rexingen

 

Die thematisch passenden Gedenkorte wählen

Die vielfältige Landschaft von über 70 Gedenkstätten in Baden-Württemberg bietet ideale Möglichkeiten, sich am historischen Ort mit dem historischen und aktuellen Antisemitismus, Rassismus sowie Demokratiegefährdungen auseinanderzusetzen.

Zentral ist jedoch die richtige Auswahl des passenden Gedenkorts für aktuelle Themen. Es ist nicht sinnvoll, in Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager  in Deutschland und Zwangsarbeiterlagern vorrangig die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Antisemitismus zu führen, aber sehr wohl können dort die schrittweise Zerstörung der Demokratie, die Verfolgung von Andersdenkenden und aktuelle Bezüge zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit thematisiert und diskutiert werden. Wenn es um den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und Übergriffe in den Schulen geht, sind vorrangig die Synagogengedenkstätten und Gedenkorte jüdischen Lebens die richtigen Orte, weil dort jüdisches Leben bis zur Zerstörung im Nationalsozialismus gezeigt und deutlich wird, dass die jüdische Bevölkerung das Leben in Deutschland historisch selbstverständlich mitgeprägt hat. Jüdinnen und Juden waren gerade in den südwestdeutschen Dörfern und Kleinstädten meist keine zugezogenen Migrantinnen und Migranten. Der damalige Antisemitismus weist Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum aktuellen Antisemitismus auf und dieses Verhältnis kann mit den Besucherinnen und Besuchern auch diskutiert werden.

Ebenso gibt es in den Synagogengedenkstätten Angebote zur Vermittlung von religiösem Wissen als Teil der interkulturellen Bildung, denn vielen Menschen ist das Judentum heute fremd, und das Nichtwissen kann ein Einfallstor für antisemitische Projektionen darstellen. Häufig existieren in diesen Gedenkstätten Kooperationen mit jüdischen Einrichtungen und Gemeinden heute, um in Ausstellungen, Lesungen und anderen Veranstaltungen aktuelles jüdisches Leben zu präsentieren. Denn eine Quelle für antijüdische Stereotype und Antisemitismus ist die in Deutschland u. a. weitverbreitete Unkenntnis über die Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland seit den 1990er Jahren und die Bedeutung der jüdischen Geschichte in Deutschland vor der NS-Zeit. Durch die Besuche in Synagogengedenkstätten können hier große Wissenslücken geschlossen werden, sodass diese Veranstaltungen im Ansatz aufklärerisch sind. Die Behandlung jüdischen Lebens in Geschichte und Gegenwart  sowie die Vermittlung von Informationen zur jüdischen Religion, z. B. bei Friedhofsbesuchen, können vor allem bei eher distanzierten Besucherinnen und Besuchern eine sachliche und emotionale Auseinandersetzung anregen. Dabei ist es von Seiten der Lehrkräfte bei der Planung des Gedenkstättenbesuchs sinnvoll, die dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorab darauf hinzuweisen, den aktuellen Antisemitismus durch pädagogische Angebote, Fragen und Materialien mitzubehandeln. Bei einem mehrstündigen Besuch oder Projekttag gibt es – je nach Bedarf und Absprache – bei einer Reihe von  Synagogengedenkstätten auch die Möglichkeit, aktuelle Formen des Antisemitismus in Workshops und in Arbeitsgruppen vertiefend zu behandeln. Beim sensiblen Thema Antisemitismus scheint es gerade besonders wichtig, dass moralisch-belehrende Ansätze seitens der Gedenkstätten und Lehrerschaft unterlassen werden und mit Schülerinnen und Schülern, die sich antisemitisch äußern, ernsthaft, sachlich und kritisch über diese Haltung diskutiert wird. Bei gezielt schwerwiegenden und anhaltenden Äußerungen hilft ggf. jedoch nur noch der Hinweis, dass diese mit dem Grundgesetz und dem Strafrecht nicht vereinbar sind und die Gedenkstätte ggf. Anzeige erstatten wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gedenkstättenbesuche als externes Lernangebot wichtige vertiefende Impulse gegen Antisemitismus setzen können. Dennoch stößt diese außerschulische Bildungsarbeit in Gedenkstätten an Grenzen beim Umgang mit dem aktuellen Antisemitismus, weil entsprechende Einstellungen nur in einem längeren individuellen Lernprozess verändert werden können.

Dr. Martin Ulmer, Historiker und Kulturwissenschaftler, Geschäftsführer des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb e.V. und Mitglied des Sprecherrats der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen Baden-Württemberg

 

(zitiert nach: Wahrnehmen – Benennen – Handeln. Handreichung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen. Hg. vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg. Stuttgart 2019, S. 104-109.)

Synagogenplatz, Tübingen


Weiterführende/vertiefende Literatur:

  • Brühl, Christian und Meier, Marcus (Hrsg.): „Antisemitismus als Problem in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit. Pädagogische und didaktische Handreichungen für Multiplikatoren und Multiplikatorinnen.“ Herausgegeben vom NS-Dokumentationszentrum Köln. 3. Aufl. Köln 2014.
  • Gryglewski, Elke / Haug, Verena / Kößler, Gottfried / Lutz, Thomas / Schikorra, Christa (Hrsg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen.“ Herausgegeben im Auftrag der AG Gedenkstättenpädagogik. Berlin 2015. 
  • Landeszentrale für politische Bildung / Frick, Lothar (Hrsg.): „Erinnern – Erfahren – Erlernen. Pädagogische Ansätze und Konzepte für Jugend- und Vermittlungsarbeit an Gedenkstätten.“ Stuttgart 2017.
  • Steinbrenner, Felix / Sturm, Michael: „Wie hier mit jungen Neonazis sinnvoll pädagogisch gearbeitet werden kann, ist mir allerdings schleierhaft“. Kritische Überlegungen zum Bildungsformat Gedenkstättenfahrt und dessen Möglichkeiten zur Prävention von Rechtsextremismus und Rassismus. In: Martin Langebach und Hannah Liever (Hrsg.). Im Schatten von Auschwitz. Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine: Begegnen, Erinnern, Lernen. Bonn,2017, S. 568–583.
  • Gedenkstätten in Baden-Württemberg
  • Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb e.V.

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