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Richard Evans zu kontrafaktischen Szenarien (2014)

All das macht deutlich, auf welch dünnem empirischen Eis sich kontrafaktische Spekulationen häufig, vielleicht sogar in der Regel bewegen: Zu oft ist ihr Ausgangspunkt allzu unvorsichtig gewählt, zu häufig versäumen sie es, zwischen unterschiedlichen kausalen Ebenen zu differenzieren. Nicht selten versuchen sie sich an enorm komplexen historischen Themen und durchschlagen in ihren Interpretationen den gordischen Knoten, indem sie die Macht des einzelnen Akteurs betonen, den Lauf der Dinge zu verändern. Darüber hinaus ist jedes kontrafaktische Szenario an eine bestimmte historische Interpretation gebunden, die fast zwangsläufig schon für sich genommen anfechtbar ist, noch bevor eine Veränderung der Ausgangsbedingungen vorgenommen wird. So gibt es beispielsweise zahlreiche kontrafaktische Essays über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In genretypischer Manier konzentrieren diese sich entweder auf ein Scheitern des Attentats auf Franz Ferdinand oder auf die Entscheidung des britischen Außenministers, nicht in den Krieg einzutreten — und nicht etwa auf einen anderen Verlauf der Entscheidungsprozesse in der russischen, österreichischen, serbischen oder irgendeiner anderen Regierung. Jede kontrafaktische Darstellung, die den Kriegsausbruch zum Ausgangspunkt nimmt, muss daher berücksichtigen, dass wir es 1914 mit einer Vielzahl sich auf völlig unvorhersehbare Weise überschneidender Kausalketten zu tun haben. Schon im Rahmen der Balkenkriege im Winter 1912/13 waren diese beinahe zusammengelaufen; wäre Franz Ferdinand nicht erschossen worden, so spricht vieles dafür, dass sie sich zu einem anderen Zeitpunkt auf andere Weise gebündelt hätten, auch wenn man das mit Sicherheit niemals sagen kann. Es sind einfach zu viele Variablen im Spiel, als dass es plausibel erschiene, wenn man eine einzige herausgriffe und das ganze komplexe Durcheinander an Ursachen auf die Auswirkungen einer einzigen Veränderung der Kausalkette reduzierte.


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