Die beiden Negationen

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Ein ausführliches interaktives Training zu den beiden Negationen und zur Negationenhäufung findet sich bei den interaktiven Übungen.

οὐ und μή

Die Negation οὐ (οὐκ vor nicht-aspierten, οὐχ vor aspirierten Vokalen, attisch auch οὐχί) verneint objektiv (Tatsachen), die Negation μή subjektiv (Vorstellungen)1:

[Ἐγὼ] ἀναιδής οὔτ̓ εἰμι μήτε γενοίμην. Demosthenes 8,68

Ich bin weder schamlos noch möchte ich es werden.

Das Beispiel zeigt: Mit οὐ werden Sätze verneint, wenn ausgedrückt werden soll, dass etwas objektiv (d. h. unabhängig von der Einstellung des Sprechers) nicht der Fall ist. – Dagegen wird μή verwendet, wenn etwas nach dem Willen des Sprechers nicht sein soll bzw. das Nicht-Sein von seiner Vorstellung abhängt.

Oὐ und μή werden zwar gleichbedeutend übersetzt, aber in bestimmten Fällen gibt die verwendete Negation einen wertvollen Hinweis auf die Sinnrichtung des verneinten Satzes bzw. Ausdrucks und damit auf dessen Übersetzung.

1 Dies gilt auch für alle Zusammensetzungen mit οὐ bzw. μή:

οὐδείς, οὐδεμία, οὐδέν  μηδείς ... kein, keine / niemand, nichts
οὐδέ μηδέ und nicht; auch nicht; aber nicht; nicht einmal
οὔτε ... οὔτε μήτε ... μήτε weder ... noch, nicht ... und nicht
οὔπτοτε μήποτε niemals
οὐκέτι μηκέτι  nicht mehr
οὔπω / οὐ ... πω μήπω /  μή ... πω noch nicht
οὐδαμοῦ μηδαμοῦ nirgends

1. οὐ wird verwendet

a) wenn ein einzelner Begriff verneint wird, besonders wenn das Gegenteil ausgedrückt werden soll:

τὰ οὐ καλά das Unehrenhafte – οὐ πάνυ durchaus nicht

b) in unabhängigen Behauptungssätzen:

Οὐ γὰρ δήπου ψεύδεταί γε [ὁ θεός]· οὐ γὰρ θέμις αὐτῷ. Pl. Apol. 30c

(Der Gott) lügt doch wohl nicht, denn das ist ihm nicht erlaubt! (Sokrates über den Orakelspruch des Gottes Apollon)

Oὐ wird auch verwendet, wenn der Sprecher die Gültigkeit einer Behauptung durch einen Potentialis oder Irrealis abschwächt.

c) in abhängigen Behauptungssätzen (ὅτι/ὡς-Sätze, abhängige Fragesätze, Temporalsätze, Relativsätze) und im AcI, wenn dieser von einem Verb des reinen Meinens und Behauptens abhängig ist:

Ἐγὼ ἂν εἴποιμι, ὅτι οὐ καλῶς λέγεις, ὦ ἄνθρωπε. nach Pl. Apol. 28d

Ich dürfte sagen, dass du nicht Recht hast, Mensch.

Beim AcI kann die Negation zum Verb des Sagens hin verschoben werden (vgl. lat. negare: sagen, dass nicht):

Oὔ φημι τοῦτο καλῶς ἔχειν.

Ich sage, dass sich das nicht gut verhält. (Ich leugne, dass sich das gut verhält.)

d) als Verneinung einer Frage (mit oder ohne Wiederholung des Verbs):

ΣΩΚΡΑΤΗΣ         Οἶσθα, ὅθεν τεκμαίρομαι;

ΓΛΑΥKΩΝ           Oὐκ, ἀλλὰ λέγε. Pl. Pol. 433b

SOKRATES:        Weißt du, woraus ich das schließe?

GLAUKON:         Nein, aber sag (es mir)!

Alternativ stehen Ἥκιστα („Keineswegs!“) oder Πῶς γάρ; („Wie denn?“).

e) in rhetorischen Fragen, bei denen der Sprecher die Antwort „Ja“ erwartet bzw. nahelegt:

Ἆῤ οὐχ οὕτως; – Οὕτω μὲν οὖν. Pl. Phlb. 11d

Etwa nicht so? – Allerdings so.

Οὔκοῦν δοκεῖ σοι; – Δοκεῖ μοι.

Denkst du etwa nicht so? – Doch, so denke ich. / Du denkst so, nicht wahr? – Ja, so denke ich.

2. μή wird verwendet

a) in (abhängigen und unabhängigen) Begehrsätzen (Sätze des Begehrens, Aufforderns und Verbietens, Nebensätze der Absicht und der Fürsorge):

Μὴ θορυβήσητε / θορυβεῖτε, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι. Pl. Apol. 20e; 30c

Lärmt nicht, ihr Männer von Athen! (Sokrates vor Gericht)

Μή μοι γένοιθ̓, ἃ βούλομ̓, ἀλλ̓  ἃ συμφέρει. Menander, sententiae 481 Jaekel

Mir möge nicht zuteil werden, was ich will, sondern was mir nützt!

Spezialfall: Nach Verben des Fürchtens wird μή mitdass“ übersetzt.*

Δέδοικα, μὴ τοῦτ' ἀνόσιον ᾖ. nach Pl. Pol. 368b

Ich fürchte, dass das unfromm ist.

* In dem eigentlich unabhängigen Satz bezeichnet μή den Wunsch, der sich mit der Furcht verbindet („hoffentlich nicht!“).

b) beim AcI und beim (einfachen und substantivierten) Infinitiv (außer nach Verben des reinen Meinens und Behauptens):

Ἀνεῖλεν ἡ Πυθία μηδένα σοφώτερον εἶναι. Pl. Apol. 21a

Pythia verkündete*, dass keiner weiser sei (als Sokrates).

* Der Orakelspruch wird nicht als einfache Behauptung aufgefasst, in ihm drückt sich der Wille des Orakelgottes Apollon aus.

c) in Konditionalsätzen sowie in Nebensätzen und Partizipialkonstruktionen mit konditionaler Färbung bzw. verallgemeinerndem Sinn  (s. auch unten):

Kαὶ τοῖς μὲν πειθομένοις αὐτῷ συνέφερε, τοῖς μὲν μὴ πειθομένοις μετέμελε. Xen. Mem. 1,1,4

Und denjenigen, die ihm (= Sokrates) folgten, brachte es Nutzen, diejenigen die ihm nicht folgten (= allen, die ihm nicht folgten / wenn sie ihm nicht folgten) bereuten es.

d) in deliberativen Fragesätzen:

Πῶς λέγεις; Μὴ ἀποκρίνωμαι; Pl. Pol. 337b

(Sokrates zu einem Gesprächspartner:) „Wie meinst du das? Soll ich nicht antworten?“

e) in einer Frage, hinter der sich eine bejahende Behauptung oder eine Befürchtung verbirgt (rhetorische Frage):

(Ἆρα) μὴ ὁ φίλος σου τέθνηκεν; / Μῶν (= μὴ οὖν) ὁ φίλος σου τέθνηκεν;

Dein Freund ist doch nicht etwa gestorben? Ist dein Freund etwa gestorben?
(erwartete bzw. erhoffte Antwort: „Nein, ist er nicht!“)

Sinnrichtung und Übersetzung

Die Verwendung von μή kann also einen wertvollen Hinweis auf die (häufig konditionale) Sinnrichtung und damit für die Übersetzung geben. Das gilt insbesondere für konditional (oder final) aufzufassende Partizipien und verallgemeinernde Ausdrücke.

Τούτο νῦν ὑμεῖς μὴ πειθόμενοι ἡμῖν πάθοιτε ἂν. Thuk. 1,40,2

Das könnte euch nun passieren, wenn ihr uns nicht gehorcht.

Ἃ μὴ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι. Pl. Apol. 21d

Was ich nicht weiß, glaube ich auch nicht zu wissen. = Wenn ich etwas nicht weiß / Alles, was ich nicht weiß, ...

Ὁ μὴ ἰατρὸς ἀν|επιστήμων, ὧν ὁ ἰατρὸς ἐπιστήμων. Pl. Gorg. 459b

Der Nicht-Arzt (= Wenn einer nicht Arzt ist / Jeder, der nicht Arzt ist,) versteht sich nicht auf das, worauf sich der Arzt versteht.

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