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Familiengedächtnis, Nationalsozialismus und Holocaust

Dynamisches Familiengedächtnis: Was man alles tun musste
Unsere Interviews haben gezeigt, wie und auf welche Weise die nationalsozialistische Vergangenheit im Bewusstsein und im Unbewussten der Deutschen lebendig ist. Sie lebt fort in Gestalt von virtuellen Familienalben, in die jene Bilder und Geschichten eingeheftet sind, auf deren Lesarten sich die Familienmitglieder im skizzierten Prozess der gemeinsamen Verfertigung der Vergangenheit geeinigt haben und die beständig in jenem Prozess der kommunikativen Feinabstimmung modifiziert werden, der die fiktive Einheit des Familiengedächtnisses sicherstellt.
Wir haben darzulegen versucht, dass dieses Gedächtnis nur in seiner Aktualisierung besteht, und dass in diesem wiederkehrenden Prozess der Verlebendigung die Vergangenheit beständig umgeschrieben wird. Gerade am Beispiel der kumulativen Heroisierung lässt sich das gut beschreiben, denn hier geht ein Grundelement des traditionellen deutschen master-narratives über den Nationalsozialismus eine Verbindung mit neueren Diskursen über den Holocaust ein, und heraus kommt eine Lesart der Vergangenheit, in der sich eine Alltagstheorie über die nationalsozialistische Vergangenheit weiter stabilisiert und sogar ausgebaut zeigt. Verblüffenderweise scheint das Familiengedächtnis in der Lage zu sein, öffentliche Diskurse über den Holocaust oder über die Verbrechen der Wehrmacht in diese Alltagstheorie zu inkorporieren, deren Keim darin besteht, dass Deutsche und "Nazis" zwei völlig verschiedene Personengruppen waren, die nur im pragmatischen Grenzfall in Deckung kamen: wenn etwa unsere Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei "eintreten mussten", für die Gestapo "arbeiten mussten", in den Krieg "gehen mussten" oder der Verfolgung — und nur dieser — der jüdischen Bevölkerung "zusehen mussten". Das alles haben sie im Gegensatz zu den "Nazis" nicht aus Überzeugung und gern getan, sondern, weil "man" das damals machte oder weil man damit Schlimmeres verhüten konnte; im Übrigen haben sie im Rahmen ihrer Funktionen stets versucht, sich wie gute Menschen zu verhalten — anders wiederum als die "150-prozentigen Nazis", die in ihren Erzählungen als chronische Widersacher auftreten.


Konstruktion von Vergangenheiten: Überhören und Ignorieren
Gerade das Wissen, dass der Nationalsozialismus ein verbrecherisches System war, das Millionen von Opfern gefordert hat, ruft in den Nachfolgegenerationen das Bedürfnis hervor, eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten in Rollen auftreten, die mit den Verbrechen nichts zu tun haben. Dieses Bedürfnis entfaltet Wirksamkeit bis hin zu dem irritierenden Umstand, dass Mordtaten, von denen im Familiengespräch berichtet wird, von den Anwesenden nicht "gehört" zu werden scheinen — zumindest findet sich in den Einzelinterviews davon keine Spur. Wir haben in unserer Stichprobe immerhin zwei Fälle, in denen Zeitzeugen sich offen zu selbst begangenen Taten äußern — aber das wird, so scheint es, lediglich vom Tonband aufgezeichnet, nicht vom Familiengedächtnis. Nicht weniger bemerkenswert erscheint aber, dass im Rahmen von Familiengesprächen auch Aspekte von Erzählungen, die unter anderen Umständen sofort zu kritischen Nachfragen oder zum empörten Verlassen des Raums führen würden, nicht zur Kenntnis genommen werden — etwa dann, wenn vom voyeuristischen Zuschauen bei Erschießungen die Rede ist […] Im Familiengespräch scheint, je nach dem Plot, auf den die Erzählung hinausläuft, normal, was in anderen Zusammenhängen skandalös erscheinen würde. Dasselbe Phänomen findet sich im Kontext von Erzählungen zu Zwangs- und Fremdarbeitern oder eben von Schilderungen, die die Erzähler deutlich auf der Täterseite situieren — z. B. wenn jemand aus intimer Sicht das Verhalten der Kapos im Lager als unsolidarisch erklärt. In unseren Interviews geht es an solchen Stellen fast nie um Fragen wie: "Was hast du da gemacht?", "Wie bist du da hingekommen?", "Warum wurden diese Leute erschossen?" usw. Zu bereitwillig folgen die Zuhörerinnen und Zuhörer der erzählimmanenten Gestalt, die um einen anderen Plot, um eine andere Moral der Geschichte zentriert ist.


Die nächste Generation: Kontraevidenz aufgrund emotionaler Einbezogenheit
Was in der Ausgangserzählung der Zeitzeuginnen und -zeugen vielleicht noch widersprüchlich und unklar war, wird in den Versionen der Enkelinnen und Enkel eindeutig. So wird aus einem undefinierten Akteur "der Hauptmann" oder "der Offizier", aus undefinierten Kindern solche, "die gerettet wurden", aus Menschen, die displaced persons nach dem Krieg Hilfe verweigern, Menschen, die während des Krieges "Juden versteckt" haben.
Zu all dem gehört, dass immanent völlig widersprüchliche, ihre eigene Widerlegung gleich miterzählende Geschichten im Gespräch offenbar als durchaus plausibel empfunden werden können. Das über unser Material hinaus bekannte Beispiel ist, dass man nichts von Lagern gewusst hat, aber ständig davon bedroht war, "ins KZ zu kommen". Wir finden kontraevidente Geschichten, in denen am Beispiel von Fotos über Erschießungen berichtet und im gleichen Atemzug betont wird, dass man so was nie hätte erzählen dürfen, weil man dann sofort erschossen worden wäre, oder solche, in denen zugleich erzählt wird, dass man einer Vergewaltigung durch Russen entging, weil Kinder anwesend waren und dass Russen auf nichts Rücksicht nehmen, wenn sie vergewaltigen wollen, nicht einmal auf Kinder.
Es wäre völlig verfehlt, anzunehmen, einem selbst würden solche kontraevidenten Geschichten weder in der Rolle des Zuhörers noch in der des Erzählers jemals durchgehen: Es ist nicht zuletzt die wahrheitsverbürgende Situation des Familiengesprächs selbst, die logische Widersprüche und sogar hanebüchenen Unsinn wie selbstverständlich plausibel erscheinen lässt. Diese wahrheitsverbürgende Kraft des unmittelbaren Zeugnisses geht sogar, wie man an den Reaktionen der Interviewerinnen und Interviewer ebenso sehen kann wie an den allfälligen medialen Zeitzeugenauftritten, auch weit über den Rahmen von Familiengesprächen hinaus. Sobald ein Zeitzeuge von seinen Erlebnissen berichtet, scheint er mit einem Authentizitätsvorteil ausgestattet zu sein, der diejenigen, die so etwas nicht erlebt haben, tendenziell in ein defensives und affirmatives Mitdenken und Mitfühlen zwingt, das kritische Nachfragen als undenkbar, mindestens aber als unpassend erscheinen lässt.
Bei all diesen Phänomenen spielt eine entscheidende Rolle, dass wir es in unseren Gesprächen mit emotional bedeutsamen Situationen zu tun haben — und emotionale Einbezogenheit erzeugt, wie gesagt, eine andere Ausgangsbedingung für das, was wahrgenommen, eingespeichert, aufbewahrt und abgerufen wird. Emotionale Erinnerungs- und Weitergabeprozesse sind etwas anderes als das Lernen von Fakten und das Verfügen über Wissen — und deshalb stellen kommunikativ tradierte Gewissheiten und kognitiv repräsentiertes Wissen unterschiedliche Bereiche des Geschichtsbewusstseins dar.


Die kollektive Gedächtnislücke: das jüdische Schicksal 1938-45
Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass in deutschen Familien ein Bewusstsein über die nationalsozialistische Vergangenheit tradiert wird, in dem die Vernichtung der europäischen Juden nur als beiläufig thematisiertes Nebenereignis vorkommt, und zwar in Beispielen, die zeitlich nur bis zur "Reichskristallnacht" und zur allenthalben konstatierten "Ausreise" von jüdischen Mitschülerinnen und Mitschülern und ihren Familien reichen, nicht aber bis zur Enteignung, Deportation und Vernichtung. "Juden" treten in den Gesprächen erst als Zurückgekehrte wieder auf, und dann in der Regel als Kronzeugen dafür, dass man selbst oder der Verwandte immer korrekt und hilfsbereit gewesen war. Der Holocaust selbst existiert in unseren Interviews und Familiengesprächen meist nur auf Nachfrage – er hat seinen Ort in dem kognitiven Universum dessen, was man über die Geschichte weiß, nicht in Familiengeschichten.
Mit anderen Worten: Der Holocaust hat keinen systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis, das, so unsere These, die primäre Quelle für das Geschichtsbewusstsein ist. Sein Narrativ entspringt einer externen Quelle, gebildet aus Geschichtsunterricht, Gedenkstättenarbeit, Dokumentationen und Spielfilmen. Ein solcherart vermitteltes Wissen ist aber etwas anderes als die selbstverständliche Gewissheit, die man als Mitglied einer Erinnerungsgemeinschaft über deren eigene Vergangenheit hat.


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