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2. Mai 1916

Mein liebes Weib!
Ich möchte gerne bei dir sein, muss mich aber mit Schreiben begnügen. Ich kann dir auf diese Art auch erzählen, obwohl es schwerer ist als persönlich miteinander plaudern. Es ist früh morgens und ich schreibe diese Zeilen auf Posten, von dem man wohl landschaftlich eine prächtige Aussicht hat, aber von der französischen Stellung absolut nichts sieht. Es genügt mir, ab und zu einen Blick durch die Schießscharte hinauszutun, ob noch kein Franzos im Drahtverhau hängen bleibt, sonst gibt es da nicht viel Kriegerisches zu sehen oder zu erleben, wenigstens vormittags. Nachmittags ist die Sache meist etwas anregender, da dann die Artillerie untereinander funkt. Ich bin aber gar nicht neugierig nach solchen Sachen, wenn es auf mich ankäme, dann wäre schon längst der Frieden geschlossen. Gestern Abend habe ich mich länger mit unseren Kameraden unterhalten und bei ihnen die ähnlichen Ansichten gehört, wie ich sie schon länger habe. Ja, bei Kriegsausbruch, da war ich auch patriotisch veranlagt und davon berauscht. In der Front, aber, wo der Tod jeden Augenblick an einen herantreten kann in seiner furchtbarsten Art, da sieht man klar und deutlich das Unsinnige, Widernatürliche dieser Menschenbekämpfung. Welche große Kulturarbeiten wären nur alleine möglich gewesen, wenn man annimmt, alle Soldaten hätten anstatt Schützengräben auszuheben, in Mesopotamien die alten zerfallenen Bewässerungsanlagen wiederaufgebaut und damit für die Welt eine Kornkammer eröffnet. Oder bleiben wir bei einem kleineren Beispiel. Ich glaube, dass z.B. unsere gesamte württembergische Streitmacht seit Kriegsbeginn anstatt im Felde stehend die Ausführung des Neckarkanals in die Hand genommen hätte, so könnten wir einst anstelle eines für viele Angehörigen schmerzlichen Einzuges in Stuttgart mit größerem Stolz die Entladung eines Dampfers im Herzen unserer Heimatstadt betrachten. Wenn ich mir unsere Tätigkeit ansehe, dann sind wir Soldaten doch nichts anderes als Esser, faule Esser, die von dem Besitz ihres Volkes nur zehren, ohne Arbeit dafür zu leisten. Gesetzt, der Krieg dauert noch einmal so lange, wohin führt er dann anders als zur Verarmung der Welt. Aber nicht an das Verarmen an Geld denke ich dabei, ich meine an Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen (Werkzeuge, Geräte usw.). Du darfst meinen Ausdruck falsche Esser nicht falsch auffassen, den habe ich für uns vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus, sind doch die Anstrengungen und Entbehrungen und vor allem auch die Nervenanspannungen bei uns wie bei unseren Gegnern solche großen, dass sie wahrliche eines besseren Zweckes würdig wären als zur Vernichtung von Menschen. Wann wird die Menschheit allgemein zu dieser Einsicht gelangen? Der Kamerad gestern Abend meinte auch, vor einem Krieg sollte man jede einzelne Stimme für oder gegen den Krieg zählen und dann die, welche dafür stimmen, in den Krieg schicken, der irgend in einer Wüstenei durchgekämpft werden müsste. Das betrübendste am jetzigen Krieg ist, dass es Christenvölker sind, die sich zerfleischen, Völker, die schon jahrhundertelang den Christenglauben hören. Vater im Himmel, gib doch allen Menschenkindern das Bewusstsein, dass sie nicht zur Zerstörung auf der Erde sind, nimm den Dünkel von den Völkern, der deutsche, der Engländer, der Franzose sei der Bessere, lass uns Menschen wieder Menschen sein, befreit von dieser schlimmsten Fessel, dem Krieg und seiner Trägerin, der Geldsucht und dem Militarismus. Nach dem Krieg hiervon das Volk aufzuklären, denke ich mir eine hohe Aufgabe.


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