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Station 3: Die späten 1960er - Integration statt Entnazifizierung und der Kampf um die Wahrheit der Studentenbewegung

Integration statt Entnazifizierung - Kurt Georg Kiesinger, Bundeskanzler (1966-69)

 

Kurt Georg Kiesinger, 1904 in Ebingen (heute Albstadt) geboren, tritt 1933 als Jurastudent in die NSDAP ein und hält sich von da an in der „rechten” Ecke der vom Nationalsozialismus beeinflussten Studentenverbindung „Askania” auf. Nach einigen Jahren der Verteidigertätigkeit wird Kiesinger 1940 stellvertretender Leiter der Propagandaabteilung des Rundfunks, was er bis 1945 bleibt. Nach 18-monatigem Aufenthalt im Internierungslager tritt er 1947 in die Christlich Demokratische Union (CDU) Württembergs ein. Innerhalb der CDU macht er Karriere, bis er 1966 zum Bundeskanzler ernannt wird. Kiesingers Antreten zur Wahl und die anschließende Kanzlerschaft sind umstritten. Vor allem für die Studentenbewegung von 1968 verkörpert Kiesinger die unvollständige Aufarbeitung des Nationalsozialismus Der Abneigung gegen den Bundeskanzler verleiht auch Beate Klarsfeld 1968 Ausdruck, indem sie ihm auf dem CDU Parteitag in Berlin eine Ohrfeige gibt mit dem Ausruf: „Nazi, Nazi!”. Damit erregt sie Aufsehen bei Presse und Öffentlichkeit. 

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Kurt Georg Kiesinger auf einem CDU-Wahlplakat 1966

 

Integration statt Entnazifizierung - der Umgang mit dem Beamtenapparat des NS:  Das 131er-Gesetz

„Lang, für die meisten unerträglich lang, mußten die 131er [...] auf die ihnen im Grundgesetz in Aussicht gestellte Regelung ihrer Rechtsverhältnisse warten. Man muß freilich zugeben, daß das lange Warten sich gelohnt hat, denn es ist ein für sie günstiges Gesetz geworden.“  (Die ZEIT vom 13.12.1951)

Artikel 131 des Grundgesetzes legt fest, dass alle Beamten, die am 8. Mai 1945 im Dienst standen, prinzipiell wieder in ein gleichwertiges Amt eingesetzt werden müssen. Ein ergänzendes Gesetz von 1951 besagt, dass alle von Artikel 131 Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Wiedereinsetzung erheben können, vorausgesetzt, dass sie in den Entnazifizierungsverfahren nicht als „belastet” oder „hauptschuldig” eingestuft wurden. Damit ist auch für NS- Beamte, Angehörige der Gestapo oder Waffen-SS der Weg frei sogar in Führungspositionen der Politik, Justiz und Verwaltung.

 

1968: Die Studentenbewegung – Kampf um die Wahrheit?

"Für uns war Auschwitz eine Folie, die unsere Gedanken quälte." (Daniel Cohn-Bendit, Aktivist der sog. „68er“)

Der Studentenbewegung wird rückblickend oft eine bedeutende Rolle bei der Aufarbeitung zugeschrieben. Tatsächlich war einer ihrer Impulse die kritische Abgrenzung von der älteren als autoritär empfundenen Generation. Deren Vertreter hatten zum Teil zu den Tätern und Mitschuldigen des Nationalsozialismus gehört und waren immer noch - oder wieder - in Amt und Würden. Mehrere antisemitische Vorfälle und die 15 Jahre nach Kriegsende bevorstehende juristische Verjährung der  Menschenrechtsverbrechen hatten bereits Ende der 1950er Jahre eine offenere Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ausgelöst.

Angehörige des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) initiierten 1959 eine Wanderausstellung unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“. Den Organisatoren um Reinhard Strecker wurde anfangs von Politikern und Presse Landesverrat sowie DDR-Propaganda vorgeworfen. Einige wurden von der SPD-Mitgliedschaft ausgeschlossen.

Die Studenten ließen sich nicht beirren und stellten in der öffentlichen „Aktion Ungesühnte Nazijustiz“ Strafanzeige gegen über 40 wiederbeamtete NS-Juristen. Die Politik reagierte. Es kamen Ermittlungen in Gang, einige ehemalige NS-Richter ließen sich freiwillig vorzeitig pensionieren – bei vollen Bezügen.

Reinhard Strecker argumentierte in Podiumsdiskussionen nicht gegen das System der Bundesrepublik, sondern stützte sich vielmehr ausdrücklich auf deren rechtsstaatliche Prinzipien. Demgegenüber richteten sich die Protestaktionen der sogenannten „68er“ gegen das System der Bundesrepublik selbst, das sie als verkrustet, autoritär und undemokratisch ansahen. Nunmehr diente die NS-Vergangenheit als Erklärungsmodell für alles, was die Studenten an Westdeutschland ablehnten: Faschismus, Kapitalismus und Orientierung am US-Imperialismus. Die vom Bundestag angesichts der Studentenunruhen beschlossenen Notstandsgesetze wurden als „NS-Gesetze“ angeprangert. Dass zu den Eliten an den Universitäten und in der Politik noch immer Alt-Nazis gehörten, verstärkte die Empörung der Aktivisten, die sich gegen die seit 1966 regierende Große Koalition aus CDU und SPD in der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) zusammenfanden.

Studenten mit Plakat, West-Berlin 1967/68

 

Aus der APO gingen im Lauf der 1970er-Jahre so gegensätzliche Gruppierungen hervor wie die links-extremen Terroristen der RAF („Rote Armee Fraktion“), die Friedensbewegung, die Anti-Atomkraft-Bewegung und letztendlich auch die Partei „Die Grünen“. Reinhard Strecker wurde 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.


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