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The Great Game: England und Russland treffen sich in Mittelasien

Wenngleich man das 19. Jahrhundert gewöhnlich als den Höhepunkt des [britischen] Empires betrachtet, als eine Zeit, in der sich die Stellung Großbritanniens immer weiter verstärkte, gab es bereits erste Anzeichen, dass das Gegenteil der Fall war und die britische Dominanz abzunehmen begann. Es kam zu heftigen Rückzugsgefechten, die nicht selten verheerende strategische, militärische und diplomatische Folgen hatten. Die britischen Bemühungen, an Gebieten festzuhalten, die über den ganzen Erdball verstreut waren, führten zu gefährlichen Machtspielen mit lokalen oder globalen Rivalen, bei denen sich der Einsatz immer weiter erhöhte.

Im Jahr 1914 hatte sich diese Entwicklung so weit aufgeschaukelt, dass das Schicksal des gesamten Empires vom Ergebnis eines Krieges in Europa abhing. Dabei war es keinesfalls eine Verkettung unglücklicher Ereignisse und chronischer Missverständnisse an den Schaltstellen der Macht in London, Berlin, Wien, Paris und Sankt Petersburg, die ganze Reiche auf die Knie zwang; ausschlaggebend waren Auseinandersetzungen um die Kontrolle Asiens, die bereits seit Jahrzehnten köchelten. Es war nicht das Gespenst Deutschlands, das den Ersten Weltkrieg herbeiführte, sondern weit eher das Russische Reich und der Schatten, den dieses auf den Osten warf. Großbritanniens verzweifelter Versuch, diesen immer größer werdenden Schatten einzudämmen, spielte eine bedeutende Rolle im Vorfeld des Krieges.

Asien um 1890

Die Bedrohung, die Russland für Großbritannien darstellte, nahm im Jahrhundert vor der Ermordung Franz Ferdinands immens zu. […]

Erste Anzeichen gab es bereits Anfang des 19. Jahrhunderts. Russland erweiterte seit einiger Zeit stetig seine Grenzen und verleibte sich neue Gebiete und Völker in den Steppengebieten Zentralasiens ein […]. Als es in den Jahren 1836 und 1837 in der kasachischen Steppe zu einem massiven Aufstand gegen die russische Herrschaft kam, der den Handel zwischen Zentralasien und Indien unterbrach, ermutigten die Russen den neuen persischen Schah Mohammed, auf Herat in Westafghanistan vorzurücken. Sie hofften, eine neue, alternative Handelsroute durch den Osten eröffnen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, unterstützten sie die persischen Truppen militärisch und logistisch." Die Briten wurden kalt erwischt — und gerieten in Panik. […]

Der Krimkrieg hatte gezeigt, dass die zaristische Armee mit den alliierten Truppen, die erfahrener und besser ausgebildet waren, nicht mithalten konnte. […] Ignatjew drang darauf, dass man Expeditionen nach Persien und Afghanistan schickte und russische Gesandte die Khanate von Chiwa und Buchara besuchten. Diese sollten, wie er unverblümt festhielt, einen Weg nach Indien entlang eines der beiden großen Flüsse finden, die in den Aralsee flossen — des Syrdarjas und des Amudarjas. Es wäre ideal, führte er aus, wenn Russland ein Bündnis mit den Völkern an der indischen Grenze eingehen und deren Feindschaft gegen die Briten anfachen könnte: Dies sei der Weg, Russland wieder in die Offensive zu bringen — und das nicht nur in Asien."

Kabul während des Krieges 1839-42

Die Missionen, die Ignatjew und andere unternahmen, zahlten sich aus. In den fünfzehn Jahren nach dem Ende des Krimkriegs brachte Russland Hunderttausende von Quadratkilometern unter seine Herrschaft, ohne zu gewaltsamen Mitteln greifen zu müssen. Gut geplante und geführte Expeditionen und Gesandtschaften, gepaart mit klug eingesetztem diplomatischen Druck auf China, erlaubten es den Russen, im Fernen Osten «in kurzer Spanne [...] riesige Schritte» zu machen, wie ein erfahrener Beobachter 1861 in einem Bericht für das Außenministerium in London feststellte."

Kurz darauf fielen weitere Teile der südlichen Steppe in russische Hände, zusammen mit den Oasenstädten im Herzen Asiens. Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren Taschkent, Samarkand und Buchara sowie ein Großteil des Ferghana-Tals entweder «Protektorate» oder Vasallen Sankt Petersburgs. Dies war allerdings nur ein Vorspiel — bald würden sie vollständig annektiert und in das Zarenreich eingegliedert werden. Gleichzeitig baute Russland ein riesiges Handels- und Verkehrsnetzwerk auf, das nun Wladiwostok im Osten mit der Grenze zu Preußen im Westen und die Weißmeerhäfen im Norden mit dem Kaukasus und Zentralasien im Süden verband. […]

Aus britischer Sicht gab es gute Gründe, sich über die Absichten und Fähigkeiten Russlands und die Bedrohung, die seine Expansion in Zentralasien für die Verteidigung Indiens darstellte, Sorgen zu machen. Bald zog man in London eine militärische Konfrontation mit Russland ernsthaft in Erwägung. […] In der Zwischenzeit versuchten die Briten, Kontakte jenseits von Kandahar aufzubauen, um ein besseres Frühwarnsystem für russische militärische und sonstige Absichten einzurichten. Höhere Staatsbeamte investierten eine Menge Kraft und Arbeit in die Frage, wie man mit einem möglichen russischen Angriff auf Britisch-Indien umgehen sollte.  […]

In diesem Umfeld wachsender Rivalität und Spannung wurde Ende der 1890er Jahre bekannt, dass Russland anfing, Persien zu umwerben. Dies erhöhte die Aussichten auf ein Bündnis, das den nordwestlichen Zugang nach Indien bedrohen könnte. […]

Im Jahr 1880 begann der Bau der Transkaspischen Eisenbahn, die schon bald bis nach Samarkand und Taschkent führte. Im Jahr 1899 gab es auch eine Gleisverbindung von Merw nach Kuschk in unmittelbarer Nähe von Herat." Diese Eisenbahnlinien waren nicht nur Symbolik. Es handelte sich um Verkehrswege, auf denen man Proviant, Waffen und Soldaten bis vor die Hintertür des Britischen Empire bringen konnte. […]

Soldaten des Empire in Afghanistan: Die Elephant & Mule Battery (1900)

Zwar kam es in den Tagen nach der Ermordung Franz Ferdinands tatsächlich zu einer ganzen Reihe von Missverständnissen, Diskussionen, Ultimaten und plötzlichen Umschwüngen, deren Aufzählung hier zu weit führen würde, die tieferen Ursachen des Krieges jedoch erwuchsen aus Veränderungen und Entwicklungen, die sich in vielen tausend Kilometern Entfernung abspielten. Die wachsenden russischen Ambitionen und die Fortschritte, die Russland in Persien, Zentralasien und dem Fernen Osten erzielt hatte, setzten die britische Position in ganz Asien unter Druck und führten zu einer Versteinerung der europäischen Bündnisse. […]

Die neuere Forschung betont dagegen, dass die Welt nicht in einer Atmosphäre der Kriegsbegeisterung, sondern in einer der Angst und des gegenseitigen Missverstehens in den Krieg schlitterte. […] Tatsächlich führte die Angst vor Russland in den Tagen nach dem Attentat zum Krieg […]

Im Falle Großbritanniens war die Politik seit geraumer Zeit von der Angst vor den Konsequenzen einer russischen Neuorientierung geprägt. […] Ende Juli riet der Diplomat George Clerk in einer besorgten Denkschrift aus Konstantinopel der britischen Regierung, Russland unbedingt und mit allen Mitteln entgegenzukommen. Tue sie dies nicht, sähen sich die Briten bald einer Lage gegenüber, «in der unsere pure Existenz als Empire auf dem Spiel steht».

Zwar versuchten einige, solchen alarmistischen Behauptungen einen Dämpfer aufzusetzen, der britische Botschafter in Sankt Petersburg jedoch, der erst vor kurzem gewarnt hatte, Russland sei inzwischen so mächtig, «dass wir seine Freundschaft fast um jeden Preis behalten müssen», sandte jetzt ein Telegramm mit einer ganz eindeutigen Botschaft nach London.'" Die Position Großbritanniens sei «gefährdet», mahnte er, der Augenblick der Wahrheit sei gekommen: Man müsse sich entscheiden, ob man Russland unterstützte oder «ob wir auf seine Freundschaft verzichten wollen. Wenn wir es jetzt im Stich lassen», so warnte er, werde «die freundschaftliche Zusammenarbeit in Asien, die für uns von solch vitaler Bedeutung ist», ein Ende nehmen.'". […] Das Schicksal Großbritanniens — und seines Empires — hing von den Entscheidungen ab, die in Russland getroffen wurden. Die beiden waren Rivalen, die sich als Verbündete ausgaben.


In: Peter Frankopan, Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Deutsche Übersetzung von Norbert Juraschitz und Michael Bayer. Copyright (C) 2015 Peter Frankopan; 2016 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin, S. 399f., 408f., 415ff., 423, 429f., 447, 449ff. (Auszüge).


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