Nachkriegsalltag in Ravensburg

Hintergrundinformationen

1.1 Bedeutung

Die Lebenswelt der Menschen war in den unmittelbaren Nachkriegsjahren auf einen privaten, höchstens lokalen Erfahrungshorizont begrenzt. Woran es den Menschen konkret mangelte, welche Auswirkungen dieser Mangel, auch auf das Zusammenleben, hatte und welche Fähigkeiten die Menschen brauchten, um zu überleben - diese Fragen lassen sich dementsprechend besonders gut am überschaubaren, regionalgeschichtlichen Exempel, hier am Beispiel Ravensburgs untersuchen.
Grundlage des vorgestellten Zugangs bildet eine Vielzahl eindrucksvoller Quellen aus dem Bestand des Stadtarchivs Ravensburg. Über Plakate, amtliches Schriftgut, Zeitungen oder Briefe lassen sich die zeittypischen Aspekte des allgegenwärtigen Mangels an Nahrung, Brennstoff, Gebrauchsgütern oder Wohnraum, des gegenseitigen Misstrauens und des Neids der Bewohner untereinander oder der Versuche behördlicher Hilfestellung einerseits, der Notwendigkeit zur Selbsthilfe und Eigeninitiative andererseits exemplarisch untersuchen.

Milchversorgung 1 Milchversorgung 2

B 2  Plakate mit drastischer Bildsprache forderten Bäuerinnen und Bauern zur Erfüllung ihrer Ablieferungspflicht auf, 1946
© Stadtarchiv Ravensburg Pk 23/22 / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Ergänzend zu diesen idealtypischen Gesichtspunkten ist festzuhalten, dass sich die Nachkriegssituation in Ravensburg auch dadurch auszeichnete, dass die Stadt vom Krieg weitgehend unzerstört geblieben war und die ländliche Umgebung vielfältige Möglichkeiten bot, die unzureichenden Normal-Verbraucherrationen aufzubessern. Das regionalgeschichtliche Exempel bietet somit auch Chancen zu einer differenzierteren Betrachtungsweise des klassischen Unterrichtsthemas „Deutschland zur Stunde Null“ oder - allgemein gesprochen - zu einer Sensibilisierung für die Raumdimension von Geschichte.

luftangriff

B 3  Ravensburg als Ganzes überstand den Krieg verhältnismäßig unzerstört, doch richteten die zahlreichen Luftangriffe durchaus Schäden an. Hier: Brandbombenschäden des Angriffs vom 29.8.1942 in der oberen Herrenstraße.
© Stadtarchiv Ravensburg / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Eingebettet in den Unterrichtszusammenhang ergeben sich weitere Verbindungslinien zu und damit Verständnishilfen für Themen wie Währungsreform oder Entnazifizierung: Wer den Mangel der Nachkriegszeit untersucht hat, kann besser verstehen, welche Wirkung gefüllte Regale in den Geschäften auf die Menschen haben mussten. Und wer die Notwendigkeit behördlicher Hilfestellungen, aber auch deren Umstrittenheit analysiert hat, kann besser nachvollziehen, wie wichtig eine funktionierende Verwaltung für das Zusammenleben der Menschen war - die Frage nach dem Personal wurde so zu einer nachgeordneten.

Neben diesen Chancen zu einem Wissens- und Verständniszuwachs auf inhaltlicher Ebene bedient und schult der hier vorgeschlagene Zugang weitere Kompetenzbereiche, die im Folgenden nur exemplarisch aufgeführt werden: Der Umgang mit authentischen Zeugnissen der Vergangenheit im Stadtarchiv mit Hilfe vorgegebener, aber auch selbst erarbeiteter Fragestellungen bzw. Untersuchungskriterien schult einerseits die Methoden-, andererseits die Fragekompetenz. Das bereits angesprochene Potential zum Nachdenken über die Raumdimension von Geschichte berührt die Deutungs- und Reflexionskompetenz ebenso wie die aus den Quellen abzuleitende Kluft zwischen der damaligen und unserer heutigen Erfahrungswelt, die bei Schülerinnen und Schülern eindrückliche Alteritätserfahrungen hervorrufen kann. Letztere werden durch die räumliche Vertrautheit zwangsläufig verstärkt, regen zu einem Vergleich der damaligen Lebenssituation mit der eigenen an und können so einen Beitrag zur eigenen, historisch fundierten lebensweltlichen Orientierung leisten. Über Thema und Zugriff, so lässt sich zusammenfassen, ergeben sich eine Vielzahl an Lernchancen für einen auf Kompetenzschulung hin orientierten Geschichtsunterricht.


1.2 Geschichte

Seit Frühjahr 1944 waren selbst die ländlichen Regionen des Deutschen Reiches immer stärker vom Luftkrieg betroffen, weshalb etwa der Fliegeralarm auch für die Ravensburger zur Normalität wurde. Durch die Errichtung eines Liebesgabendepots des Internationalen Roten Kreuzes für Kriegsgefangene der Alliierten in Ravensburg erlangte die Stadt jedoch einen Sonderstatus und blieb ab Mitte April 1945 vor Luftangriffen weitgehend verschont.
Dem verantwortungsvollen Handeln einiger Bürger gegen Versuche fanatischen Widerstands war es dann zu verdanken, dass es bei der Besetzung durch die Franzosen am 28. April 1945 nicht zu einem Blutvergießen kam und die Stadt friedlich übergeben werden konnte.

General Schlesser Kinder

B 4  General Schlesser, Kommandant der 5. französischen Panzerdivision, in Siegerpose vor dem Blaserturm.
B 5  Kinder versuchen, von einem französischen Soldaten Süßigkeiten zu erhaschen.
© Stadtarchiv Ravensburg / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Der Besetzung folgte rasch der Nachkriegsalltag, der vom allgegenwärtigen Mangel an Nahrung, Brennstoff oder sämtlichen Gebrauchsgütern, von Requisitionen von Vermögen und Wohnraum oder von Konfrontationen zwischen Siegern und Besiegten geprägt war. Erst mit der Zeit arrangierte man sich dabei mit den Besatzern, und die deutsche wie die französische Verwaltung versuchten, die schwierige Situation zu meistern und den Mangel mit einem Ausgabe- und Verteilungssystem bezugsbeschränkter Waren zu verwalten. Wie in allen deutschen Städten bestimmten Hamsterfahrten, Schlangestehen vor Ämtern, Ausgabestellen und Geschäften, Lebensmittelkarten, Bezugsscheine oder Sonderzuteilungen den Alltag der Bevölkerung.

Nachhaltig geprägt wurde das tägliche Leben in Ravensburg auch von der Vielzahl an Fremden: Bereits in den letzten Kriegsmonaten waren viele Menschen aus den Kampfgebieten nach Oberschwaben geflohen. Nun kamen in die kaum zerstörte und dadurch aufnahmefähige Stadt auch ehemalige Wehrmachtsangehörige, evakuierte Frauen und Kinder aus anderen Städten, Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten und Angehörige der Besatzungsmacht; hinzuzurechnen sind die nun befreiten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die nach Oberschwaben deportiert worden waren.

Besatzer

B 6  Französische Militärparade anlässlich der Wiedereröffnung des Landgerichts im November 1945. Allein die Besatzungsmacht war mit rund 1000 Soldaten in Ravensburg präsent.
© Stadtarchiv Ravensburg / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Arbeitete die Verwaltung im Grunde ohne Unterbrechung über die Zäsur des Jahres 1945 hinweg, nahmen, nachdem zunächst das französische Militärgericht die Gerichtsbarkeit ausgeübt hatte, das Amts- und Landesgericht erst im November 1945 ihre Tätigkeit wieder auf, und auch das gesamte politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben kamen erst ab Herbst 1945 sehr langsam wieder in Gang.
Zusammengefasst lässt sich festhalten: Die erste Nachkriegszeit war für die Ravensburger wie für die Deutschen insgesamt schlicht Über-Lebenszeit.

Zusammengestellt insb. nach: Emmrich, S. / Breucker, D. / Eitel, P.: Kriegsende und Neubeginn. Das Jahr 1945 in Ravensburg, Weingarten und Umgebung, Ravensburg 1996, hier v.a. S. 11 ff., S. 96 ff. und S. 108 ff.


1.3 Anlage

Archiv
B 7  Haus der Stadtgeschichte in Ravensburg
Foto: © Armin Koch / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Das Stadtarchiv Ravensburg gehört vom Umfang seiner Bestände her zu den größten kommunalen Archiven im Raum Bodensee-Oberschwaben, das jährlich von über 1000 Interessierten besucht wird. Für diese stehen ein Lesesaal mit mehreren Arbeitsplätzen und eine kleine Bibliothek mit einem Präsenzbestand von Veröffentlichungen zur Geschichte der Stadt bzw. Region zur Verfügung. Für Schulklassen gibt es im Archiv einen gesonderten Arbeitsraum, in dem etwa 25 Personen Platz für eigenständiges Arbeiten finden.

Als Schwerpunkte für eine selbständige Erarbeitung bieten sich - neben dem hier vorgestellten Modul - unter anderem folgende Themen an:
- Recht und Ordnung in der Reichsstadt
- Die Revolution von 1848/49
- Industrialisierung und Soziale Frage
- Ravensburg im Dritten Reich

Die notwendige und sehr zeitaufwändige Quellenauswahl zu den genannten Themen kann Lehrerinnen und Lehrern über die von Peter Eitel und Jan Koppmann herausgegebenen Auswahl „Quellen zur Ravensburger Stadtgeschichte“ erleichtert werden. Die in zwei Ordnern zusammengestellten und kommentierten Quellen für den Schulgebrauch finden sich im Präsenzbestand der Bibliothek.

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -