„Von der Bevölkerung kaum wahrgenommen“? Analyse (und Vergleich) einer fotografischen Schlüsselquelle aus Gailingen vom 22. Oktober 1940

Autor/in: Florian Hellberg und Nora Musser

Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Freiburg 


Textprozedur: Quellenanalyse und Quellenvergleich

Kurzbeschreibung des Moduls:

Das Kurzmodul für zwei Unterrichtsstunden (oder eine Leistungsfeststellung) richtet sich in erster Linie an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II. Im Kern des vorliegenden Moduls wird eine sogenannte Deportationsfotografie aus Gailingen vom 22. Oktober 1940 analysiert und im Anschluss optional mit einer Schriftquelle Reinhard Heydrichs vom 29. Oktober 1940 verglichen. Besonders stehen dabei zwei – auch für die schriftliche Abiturprüfungen im Fach Geschichte in Baden-Württemberg zu berücksichtigende – materialbasierte Operatoren (analysieren und vergleichen) textprozedural und sprachbildend im Fokus. Als optionale Vertiefung kann das Kurzmodul zu einer weiteren fotografischen Schlüsselquelle der Oktoberdeportation 1940 aus Tauberbischofsheim unterrichtet werden.

Zwingend notwendig ist, dass die Schülerinnen und Schüler bereits im Vorfeld Kenntnisse zur den ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus sowie zu den inhaltsbezogenen Standards „Antisemitismus“, „Verfolgung“ und „Deportation“ erworben haben.


1. Hintergrund

a) Historische Einordnung 

Beginnend in den Morgenstunden wurden am sechsten Tag des jüdischen Laubhüttenfests Sukkot, am 20. Oktober 1940, in 138 Orten in Baden die jüdische Bevölkerung verhaftet und in der Mehrzahl mit Lastwagen oder Bussen zu zentralen Sammelorten befördert. Nachdem sie anschließend von dort aus unter Zwang zu einem Bahnhof gebracht wurden, deportierten Eisenbahnzüge insgesamt mehr als 6500 Jüdinnen und Juden aus den Gauen „Baden“ und „Saarpfalz“ im Rahmen der nach den beiden Gauleitern Robert Wagner und Josef Bürckel benannten „Wagner-Bürckel-Aktion“ in das unter Kontrolle des Vichy-Regimes stehende Internierungslager Gurs nördlich der Pyrenäen. Die überwiegende Mehrzahl der nach Gurs Deportierten verstarb entweder im Camp de Gurs (oder in einem anderen französischen Lager) oder wurde ab 1942 nach einer weiteren Deportation in den Vernichtungslagern Osteuropas ermordet.

Mitnichten wurde, wie Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, wenige Tage nach der Deportation in einer Mitteilung an das Auswärtige Amt schrieb, „der Vorgang […] von der Bevölkerung kaum wahrgenommen“. Hiervon zeugen 45 überlieferte Fotografien und ein Film (aus Bruchsal) aus insgesamt sieben badischen Orten, die die Ereignisse der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Baden nach Gurs am 22. Oktober 1940 dokumentieren.

Aus Gailingen sind insgesamt fünf schwarz-weiß Reproduktionen (vier im Querformat, eine im Hochformat) in den Maßen 8,5 x 11,5 cm seit 1968 und 1981/1982 bekannt (Erstveröffentlichung eines der Fotos im Jahr 1969, zwei weitere 1981, eines 1982 und das fünfte Foto aus Gailingen erst 2001). Sie werden der Fotolaborantin Charlotte Schlenker (ihr Mann war Besitzer eines Fotogeschäfts in Gailingen) zugeschrieben, die als „Hoffotografin“ (Friedländer-Bloch) des damaligen Gailinger Bürgermeisters Willy Becher und „stramme Parteigenossin“ (Girres) gilt. Es gilt daher als sehr wahrscheinlich, dass Charlotte Schlenker dir fünf überlieferten Deportationsfotografien aus Gailingen im Auftrag der Kommune fotografierte.

Die Bilder zeigen die Abholung Gailinger Jüdinnen und Juden an ihren (Zwangs-)Wohnorten Friedrichsheim und Israelitisches Krankenhaus, den Fußweg (mit Gepäckstücken) zum Gailinger Rathaus sowie das Einsteigen in einen Lastwagen. Auf den meisten der Fotografien sind Ordnungspolizisten sowie eine Vielzahl von Zuschauenden klar zu erkennen. Fünf der Deportierten aus Gailingen sowie eine Krankenschwester sind namentlich bekannt.

b) Historische Bedeutung

Bilder im Allgemeinen und Fotografien im Speziellen sind kein Abbild der Wirklichkeit und sagen von sich auch nicht mehr als 1000 Worte. Vielmehr sind sie das Ergebnis zuvor durch den Fotografen (oft sorgfältig) getroffener Entscheidungen, wie die Wahl des Motivs, und der genaue Zeitpunkt der Aufnahme, die Einstellungsgröße und die Wahl der Blende. So müssen auch die 45 überlieferten Fotografien aus Baden als visuelle Evidenz der Oktoberdeportation (auch unterrichtlich) bildkritisch analysiert werden. Dass es sich bei diesen Quellen um „Fotografien-wider-Willen“ (Brink 2008) – alle Fotografierten wurden unter Zwang abgelichtet – im „Komplex von Fotografie und Gewalt“ (Brink/Wegerer 2012) handelt, sollte hierbei unbedingt auch unterrichtlich reflektiert werden. Wenngleich in diesem Kurzmodul der Fokus auf den beiden (auch abituriablen) materialbasierten Operatoren analysieren und vergleichen liegt und die Rezeptionsgeschichte - und demnach die Verwendungs-, Gebrauchs- und Nutzungsgeschichte ausgeklammert bleibt – ist diese im Sinne der Visual History grundsätzlich miteinzubeziehen.

Jenseits von gedruckten Katalogen zur Deportation der badischen Jüdinnen und Juden nach Gurs im Oktober 1940 (vgl. Hellberg/Stude 2024) bieten digitale Plattformen, wie der Bildatlas #last seen, die große Chance, Fotografien der Deportation aus dem gesamten Reichsgebiet von 1938 bis 1945 miteinander zu vergleichen und vor allen Dingen auch jenseits der Analyse von Einzelquellen unter Fragen der Serialität zu untersuchen.


2. Das Thema im Unterricht

a) Impulse und Material für den Unterricht mit didaktischen Hinweisen

Zeit/Phase Inhalte/methodische Hinweise
Doppelstunde  
Einstieg Im Einstieg arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit einem Faksimile (Mitteilung Reinhard Heydrich vom 29.10.1940) AB1 [pdf 0,1 MB] und werden hieran für das Thema der Unterrichtsstunde sensibilisiert. Aus dem letzten Satz der Mittelung Heydrichs kann im gemeinsamen Unterrichtsgespräch die Leitfrage für die Stunde entwickelt werden: „Von der Bevölkerung kaum wahrgenommen“? Die Deportation der badischen Jüdinnen und Juden im Oktober 1940 nach Gurs  
Erarbeitung 1 Im Anschluss daran erfolgt die erste Erarbeitungsphase, in welcher die Schülerinnen und Schüler eine fotografische Schlüsselquelle der Deportation aus Gailingen AB1 [pdf 0,1 MB] analysieren. 
Sicherung 1 Gemeinsame Sicherung im Plenum (Erwartungshorizont AB 1 [pdf 0,1 MB]).
Erarbeitung 2 In der zweiten Erarbeitungsphase erfolgt der Vergleich der Fotografie aus Gailingen mit der aus dem Einstieg bekannten Schriftquelle Heydrichs AB1 [pdf 0,1 MB]. Im Sinne einer Differenzierung und der Transparenzmachung der geforderten Textprozedur können das AB2 [pdf 0,1 MB] sowie die Abbildung (B1 [jpg 0,1 MB] der Textprozedur eines Vergleichs und einer Analyse als Zusatzmaterial zur Verfügung gestellt werden.
Sicherung 2 Gemeinsame Sicherung im Plenum (Erwartungshorizont AB 1 [pdf 0,1 MB]).
Erarbeitung 3 Als optionale Vertiefung oder als häusliche Nacharbeit kann entweder die ganze Bildserie aus Gailingen (hier muss als Ort Gailingen ausgewählt werden) oder Deportationsfotografien aus einem anderen Ort des Deutschen Reichs in die unterrichtliche Auseinandersetzung kontrastierend miteinbezogen werden. 
Problematisierung/Transfer Nach der Beantwortung der im Einstieg gestellten Fragestellung sollte erörtert werden, inwiefern die fotografischen Evidenzen der Oktoberdeportation Elemente struktureller Gewalt enthalten.

 Download aller Materialien [zip 1,0 MB]

b) Bildungsplanbezug

Inhaltbezogene Kompetenzen:

3.4.4 Herrschaftsmodelle im 20. Jahrhundert: Bedrohung von Demokratie und Freiheit (11.2, Leistungsfach)

Inhalt:

(7) Mach­ter­werb und Herr­schafts­pra­xis des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ana­ly­sie­ren und be­wer­ten („Macht­ergrei­fung“: NSDAP, Pseu­do­lega­li­tät, „Gleich­schal­tung“, Dik­ta­tur; Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung, Mas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on, Vier­jah­res­plan, Auf­rüs­tung, „so­zia­ler Volks­staat“; Pro­pa­gan­da: Per­so­nen­kult, Mas­sen­kul­tur; Ter­ror: Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, Ver­fol­gung, „Eu­tha­na­sie“, De­por­ta­ti­on, „Um­vol­kung“, Ras­sen­dik­ta­tur; „Le­bens­raum im Os­ten“, Mas­sen­loya­li­tät; Wi­der­stand)


Prozessbezogene Kompetenzen:

nachvollziehe2.2 2.2 Methodenkompetenz:

(2) unterschiedliche Materialien ([…] Fotografien […]) auch unter Einbeziehung digitaler Medien kritisch analysieren

2.3 Reflexionskompetenz:

(5) Deutungen aus verschiedenen Perspektiven erkennen, vergleichen und beurteilen (Dekonstruktion, Multiperspektivität, Kontroversität, Zeit- und Standortgebundenheit) […]

2.5 Sachkompetenz:

(7) regionalgeschichtliche Beispiele in übergeordnete historische Zusammenhänge einordnen


Literatur

  • Hellberg, Florian/Stude, Jürgen: „Es war ein Ort, an dem alles grau war …“. Die Deportation der badischen Jüdinnen und Juden nach Gurs im Oktober 1940 (=Materialien der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 12), Stuttgart 2020.
  • Hellberg, Florian/Stude, Jürgen (Hg.): „… von der Bevölkerung kaum wahrgenommen“ Fotografien zur Deportation der badischen Jüdinnen und Juden nach Gurs im Oktober 1940 (=Kippenheimer Schriften 1), Kippenheim 2024.

Links

#last seen Bildatlas https://atlas.lastseen.org/
(Alle Links aufgerufen am 29.04.2025)


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