Hintergrundinformationen

Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Rastatt 1933-1945 - eine Spurensuche im Rastatter Stadtarchiv

1.1 Bedeutung

Die Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland gehört zu den bedeutsamsten Themen in unserem Geschichtsunterricht. Dabei fällt es Jugendlichen mitunter schwer, die Dimension des Verbrechens zu begreifen. Nackte Zahlen, etwa die der Ermordeten, können nur unzureichend zum Verständnis beitragen. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum „Dritten Reich“ wächst zudem gerade bei jungen Menschen die Versuchung anzunehmen, der Holocaust sei der Auswuchs einer extremen, ein für alle Mal abgeschlossenen Zeit.

Aus der bequemen Warte einer modernen, (vermeintlich) toleranten Gesellschaft mag der Völkermord der Nationalsozialisten manchem erscheinen wie das archaische Gebaren eines vormodernen Gemeinwesens. Dem ist zu entgegnen: Auch die Gesellschaft der Weimarer Republik war alles andere als „vormodern“ und „archaisch“. Und doch brachte sie innerhalb weniger Jahre den nationalsozialistischen Totalitarismus hervor. So drängt sich die Frage auf: Wären ähnliche Entwicklungen heute immer noch möglich? Um mit Joachim Gauck zu antworten: „Humanität ist nie im sicheren Hafen. Unsere Zivilisation ist nicht Geschichte im Endstadium, sondern vorübergehend gesicherte Existenzform“.

So kommt dem Geschichtsunterricht die Aufgabe zu aufzuzeigen, unter welchen Umständen sich solche gravierenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen möglicherweise herausbilden. Wenn gesellschaftliche Prozesse, Denkweisen und Mentalitäten in den Blick genommen werden sollen, lässt sich dies mit Schülern am überzeugendsten „vor der eigenen Haustür“ machen – also lokalgeschichtlich.

Rastatt hatte vor 1933 eine lebendige jüdische Gemeinde mit etwa 200 Gemeindemitgliedern. Etwa 65 Juden emigrieren bis 1939 ins Ausland. Die meisten der übrigen überleben den nationalsozialistischen Terror nicht.

Das Rastatter Stadtarchiv verfügt über zahlreiche Materialien, die das lange Zeit gute Verhältnis der Juden zu ihren christlichen Mitbürgern bezeugen – bis 1933 die Nationalsozialisten auch in Rastatt die Herrschaft antraten. Der lokalgeschichtliche Ansatz bietet die Möglichkeit, am konkreten Beispiel „vor Ort“ aufzuzeigen, wie es möglich war, mit den Juden einen sehr gut integrierten Teil der städtischen Bürgerschaft binnen eines Jahrzehnts vollständig zu diskreditieren, zu isolieren und zu entrechten. Die Archivalien lassen erkennen, dass die Nationalsozialisten ihren immer aggressiveren Antisemitismus offen vor den Augen der nichtjüdischen Bevölkerung austragen konnten. Dass die „einfachen“ Bürger dabei häufig als Profiteure der jüdischen Entrechtung und Enteignung in Erscheinung traten, wirft ein Licht auf das Zusammenspiel zwischen nationalsozialistischen Herrschern und „beherrschtem“ Volk.

So lässt sich schließlich auch die zentrale Frage, was denn der „einfache Bürger“ von der Judenverfolgung der Nationalsozialisten überhaupt habe mitbekommen können, lokalgeschichtlich besonders eindrücklich klären. Das Rastatter Stadtarchiv bietet eine Fülle aufschlussreicher Dokumente, die ein Nichtwissen geradezu unmöglich erscheinen lassen: die damaligen Tageszeitungen, öffentliche Bekanntmachungen vom Landrats- und Bürgermeisteramt, das örtliche Propagandaorgan der NSDAP, Akten über Versteigerungen jüdischer Alltagsgegenstände und Immobilien, die private Korrespondenz Rastatter Juden, Berichte von der Deportation der Juden, Zeugenaussagen bei Rastatter Kriegsverbrecherprozessen und vieles mehr.

Sicherlich kommt dem Erkenntnisprozess der Schüler zugute, dass sie Geschichte im Stadtarchiv mit Hilfe von Archivalien rekonstruieren.
Archivalien sind in ihrer urtümlichen Erscheinungsform in der Regel zwar weniger leicht zugänglich als inhaltlich aufbereitete, gekürzte, mit Erklärungen versehene und im Schrift-und Druckbild modernisierte „Geschichtsbuchquellen“. Aber gerade darin liegt ihre besondere Authentizität. Schüler spüren und schätzen beim Umgang mit Originalquellen die Nähe zur „historischen Wahrheit“.


1.2 Geschichte

Die folgende Darstellung für die Jahre 1577 bis 1933 ist teilweise entnommen: A. Löwenbrück, A. Schindler, Jüdisches Leben in Rastatt – Eine Spurensuche. Materialsammlung zur Ausstellung im Stadtarchiv/Stadtmuseum Rastatt, Rastatt o. J., S. 24-28.

1577
Erste nachweisbare Erwähnung von Juden in der Markgrafschaft Baden-Baden

1614
Markgraf Georg Friedrich vertreibt alle Juden aus der Markgrafschaft.

1701-1721
In Rastatt leben fünf jüdische Familien.

1720
Die Rastatter Juden dürfen einen eigenen Betsaal einrichten.

1809
Das Badische Judenedikt erklärt die Juden – mit Einschränkungen – zu gleichberechtigten badischen Staatsbürgern. Damit betrafen die Juden auch die Pflichten eines Staatsbürgers: Kinder unterlagen der staatlichen Schulpflicht, Männer wurden wehrpflichtig, alle Juden mussten erbliche Familiennamen annehmen.

1829
Einweihung der ersten Rastatter Synagoge in der Augustavorstadt

19. Jahrhundert
Die staatsbürgerliche Gleichstellung (siehe oben) und der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung lassen die jüdische Gemeinde von Rastatt im 19. Jhdt. anwachsen. Leben im Jahre 1825 61 Juden in Rastatt, so waren es im Jahre 1875 230.

Zwei Häuser in bester Wohnlage

B 3 Zwei Häuser in bester Wohnlage (direkt gegenüber vom Schloss), die sich lange in jüdischem Besitz befanden: das Gasthaus zum „Wilden Mann“ (links) und ein Eckhaus (rechts), das vor dem Bau der ersten Synagoge (1829) zeitweise auch eine jüdische Schule und ein Bethaus beinhaltete. © Stadtarchiv Rastatt

1880
Die Rastatter Juden dürfen erstmals einen jüdischen Friedhof anlegen.

1905
Die jüdische Gemeinde lässt eine neue Synagoge errichten. Das Baugelände stellt die Stadt Rastatt unentgeltlich zur Verfügung.

1914-1918
Rastatter Juden kämpfen im Ersten Weltkrieg.

Karl Nachmann als Soldat des Deutschen Heeres

B 4 Karl Nachmann als Soldat des Deutschen Heeres (1914); 1918 und noch 1934 (!) ausgezeichnet für seinen Dienst als „Front-kämpfer“ im Ersten Weltkrieg, wandert Nachmann Ende 1934 auf Druck der Nationalsozialisten aus Deutschland aus. © Stadtarchiv Rastatt

01.04.1933
„Boykotttag“: Jüdische Geschäfte in Rastatt werden mit Judensternen und Parolen beschmiert, Kunden am Betreten der Läden gehindert, Schaufenster zerstört.

10.11.1938
NSDAP-Angehörige zerstören jüdische Wohnungen und Geschäfte; die männlichen Juden werden verhaftet und ins Rastatter Gefängnis eingeliefert. Nachmittags zerstören v.a. SS-Männer die Synagoge und zünden sie an, der Feuerwehr wird das Löschen untersagt. Abends werden die jüdischen Männer unter öffentlichen Misshandlungen zum Bahnhof gebracht.

1938/39
Rastatter Juden müssen ihre Wohnhäuser, Geschäfte, Firmen und Praxen weit unter Wert verkaufen;
Beispiel: Arthur Wertheimer hatte 1920 ein Haus in der Schlosserstraße 2 für 75.000 Reichsmark erworben; 1939 erhielt er für den Zwangsverkauf 15.000 Reichsmark, die auch noch mit Sondersteuern belegt wurden.

15.11.1938
Ausschluss jüdischer Kinder aus öffentlichen Schulen.

1933-1939
Ca. 65 Rastatter Juden emigrieren ins Ausland (v.a. in die USA und nach Frankreich).

22.10.1940
Deportation von 30 Rastatter Juden ins südfranzösische Internierungslager Gurs; auf dem Weg zum Bahnhof kommt es vielfach zu körperlicher Misshandlung (siehe Unterrichtsmodul Die Deportation badischer Juden nach Gurs).

1941-1945
Deportation der nicht nach Gurs verschleppten Rastatter Juden in osteuropäische Vernichtungslager, wo fast alle ermordet werden; nur drei der nicht frühzeitig emigrierten Rastatterinnen überleben den Holocaust.

1945
Nur acht der nach Gurs deportierten Rastatter Juden überleben die nationalsozialistische Herrschaft.


1.3 Anlage

Das Rastatter Stadtarchiv befindet sich in der Innenstadt, nur wenige Schritte von der Barockresidenz entfernt (Kaiserstraße 48a). Im Rahmen einer Archivführung durch den Stadtarchivar lernen die Schülerinnen und Schüler die Bandbreite stadtgeschichtlicher Archivalien kennen. Dabei können sie beispielsweise in den Zeitungsbeständen aus den 1930er und 1940er Jahren stöbern. Aus räumlichen Gründen muss die sich anschließende Arbeits- und Präsentationsphase bei größeren Schülergruppen (mehr als 15 Personen) allerdings im Kantorenhaus stattfinden.

Das Kantorenhaus, ehemals Wohnhaus des Lehrers und Kantors der jüdischen Gemeinde, befindet sich in etwa 10 Minuten Fußentfernung vom Stadtarchiv (Leopoldring 2c). Obwohl das Kantorenhaus unmittelbar neben der Synagoge stand, hat es, anders als das Gotteshaus, die Novemberpogrome überdauert. Seit dem Jahr 2010 dient es als Erinnerungsstätte für jüdisches Leben in Rastatt. Schwerpunkt der Ausstellung ist das jüdische Leben um 1900. So zeigt beispielsweise eine topografische Darstellung Rastatts, in der die weit gestreuten Häuser und Liegenschaften jüdischer Eigentümer markiert sind, die weitgehend gelungene Integration der Juden.
Ein Besuch des Kantorenhauses stellt, unabhängig vom Nutzen der größeren Räumlichkeiten für Gruppenarbeiten etc., einen wertvollen Gegenpol zur Verfolgungsgeschichte der Jahre 1933-1945 dar.

Die Spuren jüdischen Lebens in Rastatt bis 1940 sind weit verstreut. Das Stadtmuseum vermittelt Stadtführungen zur jüdischen Geschichte, auch in Kombination mit einer Führung im Kantorenhaus (nähere Informationen: siehe Praktische Tipps).

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