Bildnerisches Gestalten bei Schülern mit > Mehrfachbehinderungen < 1 :
Freies Arbeiten mit ausgewählten Materialien und Techniken

Vorüberlegungen

Nicht nur in privaten und öffentlichen Lebenssituationen begegnet uns der Begriff gestalten: Neben diversen anderen Berufszweigen hat – vor allem seit dem PISA- Desaster in den deutschen Klassenzimmern – die (Sonder-)Pädagogik ihren Vokabelschatz mit diesem Wort erweitert, worunter man sich eine vermeintlich neu entdeckte Strategie gegen erfolgloses Unterrichten vorzustellen scheint.

Mittlerweile erhält das Wort gestalten einen spezifischen Aufforderungscharakter, denn aufgrund der unentwegten Beschallung mit diesem Wort sollen wir wohl die angegebene Tätigkeit als unerlässliche Basis des gesamten Schullebens begreifen. Also: Wir gestalten nicht nur unsere Wohnung oder eine Hochzeitsfeier, sondern auch die Schulordnung, das Sportfest, die Unterrichtsstunde, das Zeugnis.....

Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass es an der Zeit ist, sich einmal aufmerksam – wenn auch hier nur kurz – mit der Bedeutung des Begriffs gestalten auseinander zu setzen. Dabei kann zunächst festgestellt werden, dass gestalten im Sinne von etwas entwickeln, etwas entstehen / werden lassen gebraucht wird. Für ein derartiges, prozessuales Tun ist planendes Denken unbedingt erforderlich – künstlerische Kreativität wird allerdings nicht benötigt.
Gestalten steht jedoch auch als Synonym für Begriffe wie bilden, formen, prägen etc. – hierunter sind alle Handlungsweisen zu verstehen, deren produktive Ergebnisse auf dem Einbeziehen schöpferischer Ideen basieren.

Gestalten als Ausdrucksmittel im Kunstunterricht bei Schülern mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung und / oder eminenten Körperbehinderungen1 repräsentiert immer einen Vorgang des Entdeckens und Schaffens. Mit einer – besser gesagt: mit seiner – Idee modelliert (sich) der Mensch ein Stück Welt und erschafft so mit den unterschiedlichsten Materialien und Techniken eine Gestalt (im Sinne von wahrnehmbarem Produkt), die es zuvor in dieser Form nicht gegeben hat. Gelegentlich erlangt ein Mensch für sein kreatives Gestalten öffentliche Anerkennung – viel bedeutsamer ist jedoch das Gefühl der Zufriedenheit über die eigene Leistung, welches jeder Mensch nach seinem vollendeten künstlerischen Schaffen erlebt (sofern man es ihm nicht durch Missachtung / abwertende Äußerungen vermiest).

Menschen mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung und / oder eminenten Körperbehinderungen erfüllt der Vorgang des Gestaltens mit ebenso viel Freude wie die fertige Gestalt, sein kreativ geschaffenes Werk. Wie jeder künstlerisch tätige Mensch verleiht er seinen inneren Vorstellungen eine äußerlich wahrnehmbare Form: Hierbei orientieren sich die gestaltenden Handlungen an den gespeicherten Empfindungen und Kenntnissen des betreffenden Menschen, die sich wie in rascher Reihenfolge entstehende Momentaufnahmen in den Gestaltungsprozess einbringen.

Gestaltungsprozesse und Gestaltungsprodukte sind immer abhängig vom Erfahrungsstand eines Menschen – dies ist uns nicht neu. Für ein korrektes Verständnis von meinen Schülern halte ich es für zwingend erforderlich darauf hinzuweisen, dass diese Aussage selbstverständlich und ausnahmslos auch für Menschen mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung zutrifft.2
Im Rahmen des Unterrichtsangebotes Bildnerisches Gestalten verfügen die Schüler über außerordentlich bedeutsame Ausdrucksmittel. Mit ihrer persönlichkeitsspezifischen Art stellen sich die Schüler in ihrer unverwechselbaren Präsenz dar, treten mit ihren schulischen Bezugspersonen in Kommunikation und modellieren einen Ausschnitt aus ihrer Lebenswelt – indem sie die hierbei erworbenen Erlebnisse verarbeiten, bilden sie neue Erkenntnisse: Bildnerisches Gestalten stellt für die Schüler ein Perpetuum mobile dar, da sie – auch als Erwachsene! – mit Angeboten zum kreativen Schaffen ihre Persönlichkeit permanent weiterentwickeln ( sofern man ihnen lebenslang Möglichkeiten zum künstlerischen Tun gewährt ).


Zur Unterrichtsarbeit

Im folgenden Text stelle ich Kunstaufträge vor, die meine Schüler bereits einige Male hoch motiviert angenommen und – mit den ihnen eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten – erfolgreich realisiert haben.

  • Eine der wichtigsten Grundlagen für den Aufbau eines Kunstauftrags bildet der themenorientierte Dialog zwischen dem Pädagogenteam und den einzelnen Schülern. Hierbei stehen alle Beteiligten in der Pflicht, sich auf alle Signifikanten einzulassen, die ein Mensch zur wahrnehmbaren Präsentation seiner Bedürfnisse, Wünsche, Gedanken usw. nutzt.

 

  • Eine weitere wesentliche Rolle spielt es beim Unterrichtsfeld Bildnerisches Gestalten für Schüler mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung, dass Lernangebote ( hier: Kunstaufträge ) sehr differenziert ausgearbeitet werden müssen, damit sie von jedem einzelnen Schüler – entsprechend seinen individuellen Gegebenheiten – realisiert werden können. Dies impliziert zwar die weitgehende Einzelarbeit der Schüler, deshalb dürfen Aspekte des sozialen Arbeitens unter keinen Umständen vernachlässigt werden. Mit anderen Worten: Es gilt, sowohl für das pragmatische als auch für das kommunikative Unterrichtsgeschehen Handlungselemente zu planen, die den Schülern in geeigneten Sinnzusammenhängen ein gemeinschaftliches oder – wenigstens – partnerschaftliches Tun ermöglichen.

 

  • Wie im Unterricht bei Schülern mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung generell zu berücksichtigen ist, verlangt auch die Planung von Kunstunterricht das konsequente Einbeziehen von eingeübten, internalisierten und stets wiederkehrenden Aufgabenstellungen und Handlungsschritten, die den Schülern die notwendige Orientierung im Unterrichtsgeschehen gewährleisten sollen. Hat ein Schüler hinsichtlich einer Arbeitsabfolge eine verlässliche Sicherheit erreicht, kann die festgelegte Tätigkeit modifiziert werden.
    Unter dieser Prämisse wird es den Schülern gelingen stabile, individuelle Ausdrucksforen zu entwickeln – wie bereits erwähnt hat dies zur Folge, dass die Schüler ihre Persönlichkeit eigenaktiv entfalten. Hierfür ist mir besonders wichtig die Schüler mit möglichst vielen verschiedenen Materialien und Techniken zu konfrontieren, damit sie im Laufe der Zeit aus den umfangreichen Erfahrungen eine Vielzahl von Kenntnissen und Fertigkeiten aufbauen.

Die Grobstruktur einer Unterrichtssequenz mit einem Kunstauftrag besteht aus

  • einem vorbereitenden, gemeinsamen Gespräch, in welchem die bedeutsamsten Inhalte und die dafür erforderlichen Arbeitsschritte vorgestellt und besprochen werden ( Stuhl-/ Lagerungskreis );
  • der handelnden Auseinandersetzung / Auswahl hinsichtlich der Materialien und Techniken;
  • der individuellen Gestaltung der Kunstaufgabe am individuell eingerichteten Arbeitsplatz unter Wahrnehmung partnerschaftlicher und / oder gemeinschaftlicher Aktionen;
  • einem Abschlussgespräch zum Stand der Arbeit (Teilprodukt/fertiges Kunstwerk) mit der Zielsetzung die eigene Leistung – gegebenenfalls auch die Leistungen der Mitschüler – zu reflektieren, um den Kreislauf des Gestaltens zu schließen.

Meine Schüler nehmen (die meisten!) Kunstaufträge mit hoher Motivation an – enthalten diese viel Möglichkeiten für individuelle Entscheidungen und selbstständiges Tun, beweisen die Schüler mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung eine außerordentlich bemerkenswerte Experimentierfreude. Deshalb sind wir Pädagogen verpflichtet die Schüler bei dieser besonderen Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen.
Im Allgemeinen meint dies, dass die Schüler beim Bilden ihrer künstlerischen Vorstellungen und beim Ausprobieren der Ideen nicht bevormundet und >behindert< werden dürfen. Speziell erforderlich sind vor allem methodische Unterrichtsstrukturen wie – beispielsweise –

  • das Anfertigen und Anbieten von individuell adaptierten Arbeitsmitteln, deren Nutzung konsequent angebahnt und trainiert werden sollte ( -> Schaffen eines abgesicherten Repertoires von Arbeitstechniken );
  • das Einrichten der Arbeitsplätze gemäß den persönlichkeitseigenen Kompetenzen der Schüler;
  • das Bereitstellen der Materialien im Greif-/ Aktionsradius der > Künstler <.


Gelingt es uns ( so genannten nicht behinderten ) Pädagogen unseren Unterricht zum Bildnerischen Gestalten > barrierefrei < aufzubauen und die ( so genannten behinderten ) Schüler in ihrer aktiven / produktiven Teilhabe nicht einzuschränken, können die Schüler sowohl ihre kreativen Fähigkeiten als auch Lernpotentiale optimal ausschöpfen, die sie auch in anderen Lebenssituationen nutzen können. Beispielsweise sind etliche Arbeitsschritte / Lernsituationen geeignet, den Schülern als Orientierungs- und Bewältigungshilfe zu dienen:

  • ständig benötigte ( Arbeits- ) Materialien kennen, den entsprechenden Bedarf realisieren und diese Dinge – je nach den körperlichen Gegebenheiten – holen / bereitstellen;
  • den > Arbeitsplatz < ( mit ) herrichten und – nach Beendigung des jeweiligen Tuns – aufräumen;
  • Hände waschen, abtrocknen und – eventuell – eincremen.

Für viele Arbeitssituationen gilt auch, dass wir Pädagogen den Schülern – nach individueller Maßgabe – Assistenzleistungen anzubieten haben: Nach dem Grundsatz > So wenig Unterstützung wie möglich, so viel Assistenz wie nötig! < stellen wir uns gegebenenfalls hinter einen Schüler und unterstützen seine Bewegungen unter seinen Zielsetzungen, d.h. ohne sie bewusst zu manipulieren. Hierbei müssen sich Schüler und Pädagoge sehr stark konzentrieren.
Auch Lernsituationen, die scheinbar allein dem Unterrichtsfeld Bildnerisches Gestalten vorbehalten sind, können – zusammen mit den entsprechenden Lernerfahrungen – in andere Lebenssituationen übertragen werden:

  • Farben an den eigenen Händen erleben, welche dadurch bewusster wahrgenommen werden ( statt der Erfahrung mit Farben kann das bewusste Erleben auch beim Umgang mit Crème, Kuchen- / Brotteig usw. entwickelt werden );
  • Arbeiten mit einer / mit beiden Händen;
  • Verändern einer Fläche mit Farben ( z.B. mit der selbst ausgeführten Wischtechnik -> Abwischen des Frühstückstisches, Waschen des Gesichts mit einem Waschlappen usw.).


Als abschließendes Beispiel für die vielen differenzierten Möglichkeiten der Schüler, Lernsituationen und Lernerfolge aus dem Unterrichtsfach Bildnerisches Gestalten in andere schulische / außerschulische Alltagsgeschehnisse übernehmen zu können, nenne ich verschiedene Körperpositionen. Indem wir Pädagogen den Schülern diverse Lagerungsformen anbieten, ermöglichen wir ihnen ein weitgehend entspanntes Arbeiten im

  • Liegen ( mit Lagerungskeilen, -kissen );
  • Sitzen ( mit an die jeweilige Körperhaltung adaptierten Tischen, Kopf- und Fußstützen );
  • Stehen ( Stehständer );
  • Gehen / Fahren ( Rollator, Rollstuhl, Rollbrett ).


Als Abschluss meiner Ausführungen beschreibe ich die Grobstruktur einer Planung, die meine Schüler bereits mehrfach im Rahmen von Kunstaufträgen mit jeweils unterschiedlichen Materialien und Techniken durchgeführt haben.

Themenstellung
Zeitraum
Farbspuren
Februar bis Mai
Technik
Malen/Drucken
Zielstellung Malen von ( bunten ) Linien / Spuren

  • Gestalten nach Kunstaufträgen ( PCS )
  • Eigene Entscheidungen treffen in Bezug auf Farb-, Material- und Personenauswahl
  • Signalisieren seitens des Schülers von Beginn und Ende der Aktivitäten
Arbeitsaufgaben
  1. Wähle eine Farbe aus.
    Gestalte freie Spuren auf weißem Papier.

oder

  1. Lege ein Papier in den Kasten / das Tablett / den Schuhkarton ein.
    Kleckse deine Lieblingsfarbe auf das Papier.
    Rolle den Ball / die Murmel durch die Farbe über das Papier.
    Kasten evtl. auf Schaumstoffblock geben, leicht anschubsen
    Mit den Händen und / oder Füßen hin- und herbewegen.
oder

  1. Wähle eine Farbe aus.
    Gestalte freie Spuren auf weißem Papier.Wähle nach dem Trocknen mit Hilfe der Schablone einen
    Bildausschnitt und schneide oder pricke ihn aus.
    Klebe dein Bild mit Schablonenausschnitt auf ein farbiges Papier.
Materialien
  • Arbeitsmittel
    • Verschiedene Borstenpinsel
    • Acrylfarben
    • Farbschalen
    • Weißes Papier und farbige Papiere
    • Schablone für Bildausschnitt
    • Schere bzw. Pricknadel und Unterlage
  • Hilfsmittel
  • Kopfschreiber
  • Fön
  • Power Link oder Netzschaltadapter, Schalter (Round Pad)
  • Kasten / Tablett / Schuhkarton
  • Kleine Bälle oder Murmeln
  • Schaumstoffblock

 

Tabelle

Bild1 Bild2


Tabelle


Bild3 Bild4


„Jeder möchte die Kunst verstehen. Warum versucht man nicht die Lieder eines Vogels zu verstehen?“ Pablo Picasso


Literatur:
  • Jennifer Gisbertz: Grundwissen Kunstdidaktik
  • Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte e.V.:
    Ebenbilder - Mensch werden ist eine Kunst
  • Bildungsplan der Schule für Geistigbehinderte (Sonderschule) / Baden-Württemberg
Erläuterungen zu den Fußnoten:

1 Meine Schüler erzielen ihre Lern- und damit auch ihre Lebenserfahrungen überwiegend anhand körpergebundener Handlungsprozesse: Vom bewusst aktiven Zuschauen bis hin zum produktiven Tun ( in unterschiedlichen, jedoch stets sinnbesetzten Qualitäten ) nutzen die Schüler aus allen Sinnesbereichen ein vielschichtiges Spektrum von Reizangeboten / -wahrnehmungen – Letztere speichern sie in Form von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten.

2 Aufgrund der unter 1 dargestellten Sichtweise muss im Zusammenhang mit der hier getroffenen Aussage auf einen folgenschweren Irrtum hingewiesen werden: Nicht nur Mediziner, sondern auch (Sonder-) Pädagogen vertreten die Ansicht, dass sich ein – beispielsweise – zehnjähriges Kind auf dem Entwicklungsniveau eines zwei Monate alten Säuglings befinden könne. Als Ursache für diesen Tatbestand wird ein massiver geistiger Defekt attestiert.
Ein Zehnjähriger kann allerdings nur dann auf einer derartigen Entwicklungsstufe stehen, wenn er
a. tatsächlich zwei Monate alt ist oder
b. wenn er innerhalb seiner zehn Lebensjahre lediglich so viel Reize angeboten bekommen hat, wie dies im Zeitraum seiner ersten beiden Lebensmonate möglich gewesen wäre.
Fazit: Meines Erachtens lässt sich der Entwicklungsstand eines Menschen mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung nur mit einer langfristig angelegten, ausdifferenzierten Beobachtungsdiagnostik ermitteln, die die Inhalte und das Ausmaß des jeweils individuellen Erfahrungsschatzes feststellt.


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