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Eine heutige Perspektive auf den Deutschen Bund: Wolf D. Gruner

Heute eröffnen sich aus dem Blickwinkel der Globalisierung und Europäisierung für die Erforschung des Deutschen Bundes und seine Einbindung in europäische, nationale und regionale Zusammenhänge neue Perspektiven. Sein historischer Ort wird erst vor dem Hintergrund europäischer Rahmenbedingungen und der Transformationsprozesse vom Alten Europa zum Europa der Moderne des langen 19. Jahrhunderts sichtbar.

Der Sitz der Bundesversammlung in Frankfurt: das Palais von Thurn und Taxis.

Die Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress am Ende der langen Kriege fiel in eine Zeit, die aus strukturgeschichtlicher Perspektive durch eine dreifache Revolution gekennzeichnet war. Die technisch-wissenschaftliche Revolution, durch die der Prozess der Industrialisierung angeschoben wurde und bahnbrechende Entwicklungen im Transportbereich befördert wurden, sowie die Agrarrevolution, die Ertragssteigerungen durch neue Anbautechniken ermöglichte, und die demographische Revolution, die nicht zuletzt durch Fortschritte in der Hygiene und der Medizin ermöglicht wurde. Diese Revolutionen veränderten grundlegend Leben und Umwelt der Menschen. Sie beförderten entscheidend den gesamtgesellschaftlichen Wandel, beispielsweise die Binnenmigration, die Urbanisierung und die Entstehung einer industriellen Massengesellschaft. Die "transatlantische Doppelrevolution" – die Gründung der USA als demokratische Republik und die Französische Revolution von 1789 – etablierte zudem ein neues Politikverständnis. Ihre Ideen hatten nachhaltige Wirkungen auf die europäische Staatenwelt. Sie betrafen das politisch-soziale System und vor allem auch die Idee von der Nation. Die Idee von der "dynastischen Nation" mutierte durch die Revolution zur "politischen Nation", die in einem nationalen Staat zusammenleben sollte. Dieses Erbe der Französischen Revolution von 1789 wurde vor dem Hintergrund der dynamischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zum Sprengsatz für das internationale System, zu dessen Entschärfung der Deutsche Bund beitragen sollte.

Otto von Bismarck um 1862 - unter seiner Führung steuerte Preußen auf die "kleindeutsche" Lösung zu. 

Nach den Erfahrungen der langen und blutigen europäischen Kriege seit 1600 wurden Frieden und Sicherheit zu Leitkategorien der europäischen Politik. Ziel war es, den Frieden durch eine funktionsfähige, rechtlich und institutionell abgesicherte politische Organisationsform für Europa sicherzustellen. Dieser Bewusstseinswandel fand Eingang in die politischen Nachkriegsplanungen. Auslöser hierfür waren neben den personelle und materielle Ressourcen verschlingenden Kriegen auch ein modernes Menschen- und Gesellschaftsbild, ein durch Massenheere verändertes Kriegswesen, eine Ideologisierung der Kriegsführung und neue Militärstrategien. Einen besonderen Schub erfuhr das Streben nach einem sicheren Frieden auch durch die beispiellose Brutalität des Krieges und die nachhaltigen Umwälzungen in mehr als zwanzig Jahren Krieg. Zentrale Bedeutung erhielten die großen territorialen Veränderungen, die Entwurzelung und horizontale Mobilität der Menschen und die Chancen einer vertikalen Mobilität durch sozialen Aufstieg. In der Endphase der Kriege waren keine hegemonialen, sondern Konzepte jenseits von Machtpolitik, Krieg und Gewalt gefragt. Diese ließen sich nur in einem multipolaren Gleichgewichtssystem mit neuen und veränderten Mechanismen der Konfliktregulierung verwirklichen. Die traditionellen Regulierungsmechanismen hatten sich als der falsche Weg erwiesen. Neue, den veränderten Rahmenbedingungen angepasste institutionelle und rechtliche Methoden jenseits von Gewalt und dynastischer bzw. nationaler Machtpolitik waren gefragt. Dabei war es für eine wirkungsvolle staatliche Handlungsfähigkeit und die Sicherung der einzelstaatlichen Souveränität von grundlegender Bedeutung, dass die Voraussetzungen hierfür durch Reformen und den Aufbau einer modernen und effizienten Verwaltung auf allen Ebenen mit qualifizierten Beamten und Fachministerien geschaffen wurden.

Preußische Soldaten im deutsch-dänischen Krieg von 1864

Werden diese bislang in der historischen Analyse und Darstellung vernachlässigten Einflussfaktoren berücksichtigt, eröffnet sich ein neues Verständnis für die historische Leistung des Deutschen Bundes im Übergang vom Alten Europa zum sich modernisierenden und industrialisierenden Europa des langen 19. Jahrhunderts. Der Wiener Kongress, die dort geschaffene Völkerrechtsordnung und der Deutsche Bund als Band der föderativen deutschen Nation und als für die europäische Entwicklung im 19. Jahrhundert wichtiger Friedensstaat erscheinen dadurch in veränderten europäisch-internationalen, nationalen und einzelstaatlichen Bezugssystemen. Nur ein multiperspektivischer Forschungsansatz und die Einbindung des Deutschen Bundes in die europäische Transformationszeit lassen diese lange vergessene Form deutscher Staatlichkeit in einem historisch angemessenen Licht erscheinen.


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