Hintergrundinformationen

Eine hohenzollerische Kleinstadt und die Schoah: Die Jüdische Gemeinde Haigerloch 1933 bis 1942

1. Bedeutung

Teil 1:
Diskriminierung und Terror 1933 bis 1939

Die Familie des Haigerlocher Rabbinatsverwesers und Lehrers der jüdischen Volksschule Gustav Spier, Mitte der 30er Jahre. Lediglich die Tochter Ruth überlebte die Jahre des Nationalsozialismus.

Die Familie des Haigerlocher Rabbinatsverwesers und Lehrers der jüdischen Volksschule Gustav Spier, Mitte der 30er Jahre. Lediglich die Tochter Ruth überlebte die Jahre des Nationalsozialismus.
© Ruth Ben-David, Israel Ruth Ben-David, Israel / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen


Für Schüler lohnt sich die Beschäftigung mit dem Schicksal der Juden in Haigerloch zwischen 1933 bis 1942 in mehrfacher Hinsicht:

  • Das Schicksal der jüdischen Familie Spier, ein biographisches Fallbeispiel des Unterrichtsmoduls, ist ergreifend. Die Schüler können sich in die Situation des Julius Spier hineinversetzen, der im Alter von 15 Jahren deportiert und schließlich ermordet wurde.
  • Die Schüler können nachvollziehen, dass die Entscheidung auszuwandern oder in Haigerloch zu bleiben in dem Spannungsfeld von Ablehnung und Solidarität durch nichtjüdische Mitbürger, von lokaler Verwurzelung und staatlicher Repression gefällt werden musste.
  • Exemplarisch kann untersucht werden, wie sich die antijüdische Politik der Nationalsozialisten in einer konservativ geprägten schwäbischen Kleinstadt durchsetzte und konkretisierte, bzw. wo sie an ihre Grenzen stieß (Umsetzung - Anpassung - Resistenz - Widerstand etc.).
  • Das "Haag" war bis zu seiner Zerstörung ein in Südwestdeutschland einzigartiges jüdisches Wohnviertel. Noch heute lässt sich die Infrastruktur für das säkulare und religiöse Leben der Haigerlocher Juden leicht nachvollziehen.
  • Sowohl das Stadtviertel "Im Haag" als auch die Exponate, Ton-/Bild- und Textdokumente der Dauerausstellung "Spurensuche: Jüdisches Leben in Hohenzollern" in der ehemaligen Synagoge lassen vielfältige Bezüge zur Familie Spier zu.
  • Vielfältiges Archivmaterial der behördlichen Überlieferung v. a. aus dem Staatsarchiv Sigmaringen vertieft den Einblick.
  • Als Rabbinatsverweser prägte Gustav Spier maßgeblich das religiöse Leben vor Ort. Fächerverbindendes Arbeiten bietet sich an (Religion/Ethik).

Familie Spier

Linkes Bild:
Julius Spier (links) mit seinem Freund Heinz (Henry) Schwab, um 1936. Heinz Schwab gelang im Gegensatz zu seinem Freund Julius noch rechtzeitig die Emigration.
© Gesprächskreis Ehemalige Synagoge Haigerloch e.V. / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Rechtes Bild:
Gustav Spier als Rabbinatsverweser, um 1935
© Ruth Ben-David, Israel / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen


Teil 2:
Die Deportationen 1941/1942


Die Schüler können anhand des lokalen Fallbeispiels besonders anschaulich nachvollziehen,

  • dass der nationalsozialistische Genozid nicht in den Tötungsanstalten des Ostens, sondern "vor Ort" begann;
  • dass der nationalsozialistische Genozid kein anonymes Geschehen war, sondern konkrete Namen hatte - die der Opfer, aber auch die der Täter und der Mitläufer;
  • dass auch die Einwohner einer hohenzollerischen Kleinstadt in die Fragen nach Schuld und Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt wurden;
  • wie schwierig die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus in einer Kleinstadt war, in der trotz der räumlichen Trennung der Stadtviertel "jeder jeden kannte".

"Abgehakt und deportiert":
Diese Transportliste (Ausschnitt) kam mit großer Wahrscheinlichkeit beim "Verladen" der Juden auf dem Haigerlocher Bahnhof am 24. April 1942 zum Einsatz. Keiner der 26 aufgelisteten Juden aus Haigerloch, darunter drei Kinder im Alter von sechs, 14 und 36 Monaten, kehrte lebend zurück.
© Staatsarchiv Sigmaringen, Ho 13 T2 Nr. 743 / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen


Es handelt sich um ein anschauliches Beispiel:

  • Zeugenaussagen geben einen Einblick, inwieweit die Betroffenen ihr kommendes Schicksal erahnten bzw. sich noch falsche Hoffnungen machten.
  • Die konkreten Vorgänge vor und bei der Deportation aus Haigerloch lassen sich anhand der vorhandenen Quellen bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen: Der Weg zum Bahnhof, der bürokratische Ablauf des Deportationsvorgangs, die Leibesvisitation etc.

Koffer des Moritz Fleischer

Auschwitz: Koffer des Moritz Fleischer, geb. 1872 in Stuttgart, im März 1941 nach Haigerloch ins Altersheim zwangsumgesiedelt, am 19. August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Seit Mai 1944 befand sich Fleischer in Auschwitz, wo er ermordet wurde.
© Staatsarchiv Sigmaringen, Sammlung Walldorf, Dep. 44 V. 29 / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen


2. Geschichte

Chronologischer Überblick zur NS-Zeit in Haigerloch bis 1939: AB 2
Überblick zur Biographie der Familie Spier: AB 1

1933
30. Januar: Am Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler leben in Haigerloch 193 Juden (14% der Gesamtbevölkerung).

1937
"Arisierung" jüdischer Firmen (bis 1938)

1938

  • Verdrängung der jüdischen Viehhändler vom Haigerlocher Markt
  • Rückverlegung der Volksschule in das Schul- und Rabbinatsgebäude
  • Novemberpogrom (9. November): SA-Leute aus Sulz a. N. und aus Haigerloch zerstören die Synagoge. Die Fenster von 16 jüdischen Häusern gehen zu Bruch. 11 Juden werden in "Schutzhaft" genommen, misshandelt und ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Sie verbleiben dort bis spätestens Januar 1939.
    Folge: Verstärkte Auswanderung von Haigerlocher Juden (zwischen 1933 und 1941 mindestens 98 Personen)
  • Den Haigerlocher Juden wird vorgeschrieben, welche Straßen sie in Haigerloch betreten dürfen. Das jüdische Viertel darf nur noch mit besonderer Genehmigung verlassen werden. Der Einkauf für den täglichen Bedarf erfolgt über einen Gewährsmann. Die Nahrungsmittel werden über eine Verteilstelle im Haag ausgegeben.

1939

  • Aufhebung der Jüdischen Volksschule durch die Behörden, erzwungener Verkauf der Synagoge an die Stadt
  • Als "Reaktion" auf das Hitler-Attentat Georg Elsers werden am 9. November alle männlichen Haigerlocher Juden durch die SA in das Amtsgerichtsgefängnis verbracht, misshandelt und zu entwürdigenden Arbeiten gezwungen. Nach drei Tagen kommen sie wieder frei.

1941

  • Beginn des Umbaus des Synagogengebäudes zur Turnhalle durch die Stadt Haigerloch (nicht fertiggestellt)
  • 23. Oktober: Auswanderungsverbot für Juden
  • Oktober: Zwangsumsiedlung von 102 Juden hauptsächlich aus dem Raum Stuttgart nach Haigerloch (bis April 1942 insgesamt mindestens 186 jüdische Personen aus dem Raum Stuttgart und Heilbronn)
    Die Neuankömmlinge müssen nach Anordnung der Gestapo von den ortsansässigen jüdischen Hauseigentümern aufgenommen werden.
  • 27. November: Erste Deportation Haigerlocher bzw. nach Haigerloch zwangsumgesiedelter Juden (über 100 Personen, von denen lediglich 11 überleben). Sammeltransport mit württembergischen Juden von Stuttgart aus nach Riga.
    Das gesamte Vermögen der zu Deportierenden wird staatspolizeilich beschlagnahmt. Die jüdische Kultusvereinigung Württemberg hat den Transport vorzubereiten und zusammenzustellen (Benachrichtigung der Transportteilnehmer, Benennung von Ersatzpersonen, ärztliche und religiöse Betreuung etc.).
    Der Landrat von Hechingen bestellt drei Eisenbahnwaggons und organisiert die Leibesvisitation auf dem Haigerlocher Bahnhof.

1942

  • 24. April: Zweite Deportation nach Izbica (bei Lublin). Insgesamt 24 Personen aus Haigerloch. Im Lager herrschen Zustände völliger Verwahrlosung. Keiner der Verschleppten überlebt.
  • 10. Juli: Dritte Deportation mit dem Ziel "Generalgouvernement". Der Transport umfasst überwiegend kranke und pflegebedürftige Menschen, davon 5 Personen aus Haigerloch (5 Personen werden wegen "Transportunfähigkeit" zunächst verschont, dann aber beim vierten Transport erfasst). Abtransport mit dem Bus nach Stuttgart.
  • 19. August: Vierte Deportation ins fälschlicherweise "Altersghetto" genannte KL Theresienstadt. "Heimeinkaufsverträge" gaukeln den zu Deportierenden eine sichere Zukunft vor. 136 Personen in vorgerücktem Alter werden in drei Zügen nach Stuttgart 'verfrachtet'. Lediglich eine 77-jährige Frau aus Haigerloch überlebt. Luise Schwab, geb. Lion, entgeht drei Tage vor der Deportation dem Schicksal der letzten Haigerlocher Juden durch Suizid.
  • Insgesamt 279 Personen werden 1941 und 1942 aus Haigerloch deportiert, davon 105 "Haigerlocher", d. h. Personen, die in Haigerloch geboren worden waren, geheiratet hatten oder lange ansässig waren. Nach dem Krieg meldeten sich in Haigerloch 11 Überlebende aus den Konzentrationslagern zurück, davon sind 7 Personen in Haigerloch geboren worden.
  • Ab November 1942 leben keine Juden mehr in Haigerloch.

1947
28. Juni: Verurteilung des ehemaligen Hechinger Landrats sowie zweier Fürsorgeschwestern und einer Modistin, die bei der Leibesvisitation auf dem Haigerlocher Bahnhof eingesetzt waren, wegen "Verbrechens bzw. Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu Freiheitsstrafen. Der ehemalige Landrat wird von der Strafkammer des Landgerichts Hechingen zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis, die drei angeklagten Frauen werden zu Gefängnisstrafen zwischen einem Monat und vier Monaten verurteilt.

1948

  • 20. Januar: Aufhebung des Vorwurfs des "Beihilfe zu einem Verbrechen wider die Menschlichkeit" im Revisionsverfahren
  • Freispruch für die drei Frauen durch das Oberlandesgericht Tübingen
  • 12. August: Freispruch für den ehemaligen Landrat

1988
Gründung des "Gesprächskreises Ehemalige Synagoge Haigerloch"

1999
Kauf des Synagogengebäudes durch die Stadt Haigerloch (vorher in Privatbesitz: Nutzung als Kino, Lebensmittelmarkt, Lagerhaus)

2003
Eröffnung des Begegnungs- und Ausstellungszentrums "Ehemalige Synagoge Haigerloch"

2004
Eröffnung der Dauerausstellung "Spurensicherung: Jüdisches Leben in Hohenzollern"



3. Anlage

Das ehemalige

Das ehemalige "Haagschlössle", links die an die Synagoge angebaute Mikwe
© Markus Fiederer 2009


Das Wohnviertel "Haag" (vgl. die historische Aufnahme AB 5 ):
1780 wies Fürst Karl Friedrich von Hohenzollern den Juden das Garten- und Allmandgelände bei dem "Haagschlössle"(ehemals fürstliches Jagdschloss) zur Ansiedlung zu. In der Folgezeit entstand daraus ein eigenes jüdisches Wohnviertel.

Das ehemalige Synagogengebäude

Das ehemalige Synagogengebäude
© Markus Fiederer 2009

Die Synagoge wurde 1783 eingeweiht. 1845 erfolgte der Anbau einer Mikwe (rituelles Bad) an der Südwestecke der Synagoge. 1839/40 wurde die Synagoge erweitert und 1930 renoviert. Beim Pogrom vom 9./10. November 1938 wurde sie im Innern demoliert und seither nicht mehr als Synagoge genutzt. Im Jahre 1999 ging sie nach vorheriger Nutzung als Kino, Lebensmittelmarkt und Lagerhaus in den Besitz der Stadt über. Seit 2004 befindet sich in den ehemaligen Räumen der Synagoge die Dauerausstellung "Spurensicherung: Jüdisches Leben in Hohenzollern".

Das ehemalige jüdische Gemeindehaus

Das ehemalige jüdische Gemeindehaus
© Markus Fiederer 2009

Schule, Rabbiner- und Lehrerwohnung waren in dem 1844 erbauten ehemaligen jüdischen Gemeindehaus untergebracht. 1876 wurde die jüdische Schule zusammen mit der katholischen und der evangelischen Volksschule im Schul- und Rathaus der Stadt untergebracht.

Gustav Spier als Lehrer im jüdischen Gemeindehaus

Gustav Spier als Lehrer im jüdischen Gemeindehaus (um 1933)
© Ruth Ben-David, Israel / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen

Die Mazzenbäckerei befand sich im heutigen Haus "Im Haag Nr. 39".

Das ehemalige Gasthaus Rose

Das ehemalige Gasthaus Rose
© Markus Fiederer 2009

Das jüdische Gasthaus Rose war zentrale Begegnungs- und Kulturstätte der jüdischen Gemeinde.

Der alte Friedhof bei Weildorf

Der alte Friedhof bei Weildorf
© Markus Fiederer 2009

Der alte jüdische Friedhof liegt im Stadtwald bei Weildorf (unweit der Weinberghalde, wenige Meter seitlich des Wanderwegs nach Kloster Kirchberg). Der älteste Grabstein von 1567 ist nicht mehr erhalten. Aufgrund der schwierigen Erreichbarkeit des Friedhofs und der vorangeschrittenen Verwitterung der Grabsteine bietet sich ein Besuch des Friedhofs mit Schulklassen nur bedingt an.

Der Friedhof im

Der Friedhof im "Haag"
© Markus Fiederer 2009

Der Friedhof im "Haag" wurde 1803 unmittelbar unterhalb des Judenviertels "Haag" angelegt. Er birgt 660 Gräber. Die ältesten Grabsteine sind vom Anfang des 19. Jahrhunderts, das jüngste Grab ist aus dem Jahre 1977 (Louis Bernheim). Beide Friedhöfe sind frei zugänglich.
Vgl. Liste der Grabsteine des Friedhofs im "Haag" aus der NS-Zeit ( T 1 )

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -