„Machtergreifung“ in Lahr erklären

Autor: Florian Hellberg

Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Freiburg 


Visualisierung ausgewählter Faktoren zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Lahr

Kurzbeschreibung des Moduls:

Das Modul für zwei bis drei Unterrichtsstunden richtet sich in erster Linie an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Im Kern des vorliegenden Moduls wird der Operator „erklären“ und die damit verbundene Textprozedur des historischen Erklärens sprachbildend eingeführt. Am Beispiel von damals acht noch selbstständigen südbadischen Dörfern (heute Stadtteile von Lahr) wird materialbasiert multikausal der Aufstieg des „Nationalsozialismus auf dem Dorf“ (Willer 2024) erklärt. Als optionale Vertiefung und im Sinne einer Differenzierung für leistungsstarke Lerngruppen kann das Stimmverhalten ausgewählter sozialmoralischer Milieus aus Lahr mit einbezogen werden.

In einer Unterrichtsreihe zum Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus kann dieses Modul an den Beginn platziert werden, um regionalspezifische Merkmale der „Machtergreifung“ im Anschluss auch mit den Ereignissen in Berlin (und einer anderen badischen oder schwäbischen Stadt) zu vergleichen. Das hier im Fokus stehende regionalgeschichtliche Beispiel (Regionalgeschichte) kann so auch in übergeordnete historische Zusammenhänge (Deutsche Geschichte) eingeordnet werden (Sachkompetenz).

1. Hintergrund

a) Historische Einordnung

Der Aufstieg des Nationalsozialismus lässt sich historisch im multikausalen Zusammenspiel eines Faktorenbündels erklären. Dazu zählen klassischerweise politische, wirtschaftliche und soziale Faktoren, aber auch die Rollen von Propaganda und Gewalt zur Herrschaftsdurchsetzung und -sicherung sollten als Ursachen berücksichtigt werden. Auch auf der kleinsten politischen Struktureinheit, dem Dorf, hatten zahlreiche Faktoren Einfluss. Die regionalgeschichtliche Forschung hat für insgesamt acht südbadische Dörfer (heute Stadtteile von Lahr) die Konfession, Sozialstruktur (besonders der Anteil von regionalspezifischen „Arbeiterbauern“), Größe des Dorfes, Ökonomie und persönliche Faktoren (z. B. Elitenwechsel: Zeitpunkt der Dienstenthebung des letzten frei gewählten Bürgermeisters) für den Aufstieg des NS analysiert, wobei die Konfession „sich als der wirkungsmächtigste Faktor“ (Mietzner 2019, S. 181) erweist. Auch für Lahr gilt wie für viele andere Wahlbezirke die Tendenz: „Je evangelischer und ländlicher ein Wahlbezirk war, umso höher war die Zahl der NSDAP-Wähler.“ (Mietzner 2018, S. 213).

Während in Lahr die NSDAP Anfang des Jahres 1930 rund 2100 Stimmen erhielt, verdoppelte sich die Zahl der Wählerinnen und Wähler bis 1932 auf 4200 und damit knapp über 47 Prozent. Zu keinem Zeitpunkt während der Weimarer Republik erzielte die NSDAP eine absolute Mehrheit in Lahr, wenngleich die Anzahl der NSDAP-Mitglieder von 1,8% der Einwohner (März 1933) knapp über dem deutschen Durchschnitt von 1,3% lag. Lahr verallgemeinernd als „Hochburg“ der Nationalsozialisten zu bezeichnen, wie dies bereits in den 1930er-Jahren der Fall war, ist daher wenig haltbar (vgl. Mietzner 2018, S. 212f.).

b) Historische Bedeutung

Die fachspezifische Textprozedur (sprachliche Handlungsformen) des historischen Erklärens, die der dazugehörige Operator erfordert, lässt sich nicht zweifelsfrei trennscharf von anderen (domänenspezifischen) Textprozeduren wie dem Erläutern und dem Begründen (vgl. Altun/Günther 2018) unterscheiden. Nähert man sich allerdings der vom Operator geforderten Textprozedur mit der Frage, was denn hier prototypisch nicht geleistet werden soll, lässt sich festhalten, dass „nicht phänomenale Zusammenhänge wie beim Beschreiben, Handlungszusammenhänge wie beim Anleiten und Rechtfertigen oder Bedeutungszusammenhänge wie beim Erläutern und Interpretieren, sondern funktionale und kausale Zusammenhänge“ (Feilke/Rezat 2021, S. 7f.) besonders im Fokus stehen. Folgt man dieser Annahme, stehen die Sprachhandlungen des Kausalisierens (und somit die Frage nach dem Erklären - warum?) im Zentrum des historischen und damit fachspezifischen Erklärens.

Die geschichtsdidaktische Unterrichtsforschung hat mittlerweile nachweisen können, dass Schülerinnen und Schüler beim schriftlichen kausalen Erklären besonders Schwierigkeiten haben mit der (sprachlichen) Verbindung von

  1. Ursachenzusammenhängen (nicht Ursachen als getrennte Größen additiv aneinanderzureihen),
  2. der Ausführung von Handlungszusammenhängen (nicht Handlungen und Ereignisse unterschiedslos und oft personalisiert zu benennen),
  3. der Multikausalität (nicht Ursachen unlinear oder kumulativ zu reihen) sowie
  4. den Ergebniszusammenhängen (nicht historische Entwicklungen als grundsätzlich offen zu betrachten).

Im vorliegenden Modul wird der Versuch unternommen, das historische Erklären in einzelne Teil-Textprozeduren zu unterteilen (AB4) und bei der (sprachlichen) Bewältigung des Operators die Schülerinnen und Schüler durch Sprachgerüste sprachbildend (vgl. Sieberkrob 2023) zu unterstützen.


2. Das Thema im Unterricht

a) Impulse und Material für den Unterricht mit didaktischen Hinweisen

Zeit/Phase Inhalte/methodische Hinweise
Einstieg Im Einstieg benennen die Schülerinnen und Schüler die starken Stimmzuwächse für die NSDAP in Lahr von 2100 Wählern im Jahr 1930 zu fast 4200 Ende des Jahres 1932 (AB1 [pdf, 0,1 MB]). Anschließend werden Hypothesen für den Aufstieg des Nationalsozialismus in Lahr gebildet und dabei mögliche Ursachen für diesen großen Stimmzuwachs formuliert. In leistungsstarken Lerngruppen kann in diesem Zusammenhang darauf Bezug genommen werden, dass es der NSDAP mit 47 Prozent im Jahr 1932 jedoch nicht gelang, eine absolute Mehrheit zu erzielen. Gemeinsam kann auch eine Leitfrage entwickelt werden: „Lahr – eine „Hochburg“ der NSDAP?“ oder „Welche Erklärungen gibt es für den großen Stimmzuwachs der NSDAP in Lahr?“
Erarbeitung 1 Im Anschluss daran erfolgt die erste Erarbeitungsphase, in welcher die Schülerinnen und Schüler in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (alternativ auch in Form eines Gruppenpuzzles mit drei Stamm- und Expertengruppen) (AB2a Konfession [pdf, 0,1 MB], AB2b „Arbeiterbauern“ [pdf, 0,1 MB], AB2c Lokaler Zufall [pdf, 0,1 MB]) aspektorientiert den Arbeitsauftrag bearbeiten, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus in den heutigen Stadtteilen von Lahr – damals noch selbstständige Dörfer – erklärt werden kann. Als mögliche Differenzierung für besonders leistungsstarke Lerngruppen können als Vertiefung (auch als Hausaufgabe möglich) das Stimmverhalten ausgewählter sozialmoralischer Milieus aus Lahr in die Erklärung mit einbezogen werden (AB3 [pdf, 0,1 MB]).
Erarbeitung 2 In der zweiten Erarbeitungsphase, die unmittelbar an die gesicherten Ergebnisse aus der ersten Erarbeitungsphase anknüpft (B1 [jpg, 0,1 MB]), steht die schriftliche Beantwortung der die Stunde übergreifenden Aufgabenstellung und damit die Textprozedur des historischen Erklärens im Fokus. Der Schreibauftrag wird (optional auch unter Einbezug des Glossars im Schulbuch) besonders durch kleinschrittige und differenzierende Teilfragen sowie Sprachgerüste gestützt (AB4 [pdf, 0,1 MB]).
Erarbeitung 3 Als optionale Vertiefung können die Erklärungen aus dem südbadischen Lahr mit anderen Städten aus Baden oder Württemberg (z. B. Aalen oder Schwäbisch Gmünd) verglichen werden, um regionale Spezifika bei der “Machtergreifung“ der Nationalsozialisten zu schärfen.   
Problematisierung Bei der gemeinsamen Beantwortung der Leitfrage sollte vor allem auch problematisiert werden, dass der Prozess der „Machtergreifung“ nicht zwangsläufig und alternativlos war und regionale Spezifika mit einzubeziehen sind. In diesem Zusammenhang kann auch die Angemessenheit der Bezeichnung (und des Zeitpunktes/Zeitraumes: punktuell „nur“ der 30. Januar 1933 oder ein „längerer“ Zeitraum…?) „Machtergreifung“ im Vergleich zu Machtübernahme, Machtübertragung oder Machteroberung thematisiert werden. 

Download aller Materialien [zip, 1,2 MB]

b) Bildungsplanbezug

Inhaltbezogene Kompetenzen:

3.1.1 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg – Zerstörung von Demokratie und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Inhalt:

(7) Mach­ter­werb und Herr­schafts­pra­xis des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ana­ly­sie­ren und be­wer­ten („Macht­ergrei­fung“, Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung, Mas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on, Mas­sen­loya­li­tät)


Prozessbezogene Kompetenzen:

 

nachvollziehe2.2 2.2 Methodenkompetenz:

(2) unterschiedliche Materialien ([…] Texte, Statistiken […]) auch unter Einbeziehung digitaler Medien kritisch analysieren

2.3 Reflexionskompetenz:

(2) historische Sachverhalte in ihren Wirkungszusammenhängen analysieren

2.5 Sachkompetenz:

(7) regionalgeschichtliche Beispiele in übergeordnete historische Zusammenhänge einordnen


Der Bildungsplan ist nicht unter CC veröffenlicht: (C) Bildungsplanplattform Baden-Württemberg"
"Leitperspektive" ist nicht unter CC veröffentlicht: (C) Ministerium für Jugend, Kultus und Sport Baden-Württemberg

Literatur

  • Altun, Tülay/Günther, Katrin: Begründen als Arbeitsauftrag im Geschichtsunterricht, in: Günther, Katrin et al. (Hg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht, Münster 2018, S. 157–178.
  • Brauch, Nicola/Heine, Lena/Bramann, Christoph: Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen. Ansätze eines sprachlich-epistemologischen Scaffolding-Tools, in: Sandkühler, Thomas/Bernhardt, Markus (Hg.): Sprache(n) des Geschichtsunterrichts. Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen (=Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 21), Göttingen 2020, S. 137–163.
  • Feilke, Helmuth/Rezat, Sara: Erklärtexte lesen und schreiben, in: Praxis Deutsch 285 (2021), S. 4–13.
  • Fink, Tobias: In Geschichte(n) erklären lernen? Erhebung und Förderung schülerseitigen Wissens zu historischem Erklären (=Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 35), Göttingen 2025.
  • Husemann, Charlotte: Geschichte beschreiben, Geschichte erklären. Eine Untersuchung fachsprachlicher Konzepte und fachlicher Sprachhandlungsfähigkeit von Gesamtschüler*innen der Sekundarstufe I (=Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 27), Göttingen 2022.
  • Mietzner, Thorsten: Die nationalsozialistische Machtergreifung auf dem Dorf. Ein kleiner Versuch, Geschichte zu „erklären“, in: Geroldsecker Land 59 (2017), S. 170–182.
  • Mietzner, Thorsten: Kleine Geschichte der Stadt Lahr, Karlsruhe 2018.
  • Sieberkrob, Matthias: Sprachbildung und historisches Lernen – aber wie? (=Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 29), Göttingen 2023.
  • Willer, Maria Anna: Nationalsozialismus auf dem Dorf. Überlokale NS-Herrschaft und ihre spätere Verdrängung (=Histoire 214), Bielefeld 2024.

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