Das Schicksal der Helene Krötz

Hintergrundinformationen

1. Bedeutung

Helene Krötz

B 2 Helene Krötz
* 20.4. 1919 Oberurbach † 18.9.1940 Grafeneck
© Renate Seibold-Völker

Am exemplarischen Beispiel des Schicksals von Helene Krötz aus Urbach lässt sich die menschenverachtende nationalsozialistische Ideologie aufzeigen und das Unrecht und das Leid, das den Opfern zugefügt wurde, darstellen.

Helene Krötz und ihre Ermordung am 18. September 1940 steht stellvertretend für die Massenvernichtung von 10654 Menschen in Grafeneck im Jahr 1940.

Ihre nationalgeschichtlichen Dimension wird von Dr. Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, wie folgt beschrieben:

„Am 18. Januar 1940 begann auf dem Gelände des Schlosses Grafeneck der NS-„Euthanasie“-Kranken- und Behindertenmord: die Aktion „T4“. Grafeneck in den Jahren 1939 – 1941 steht für:

• die systematisch-industrielle Ermordung von Menschen im NS-Staat überhaupt

• den Beginn der Morde der "Aktion T4" im NS-Staat: Grafeneck als erstes von sechs Vernichtungszentren

• die Ermordung von ausgegrenzten und als "lebensunwertes
Leben" stigmatisierten Menschen aus psychiatrischen Kliniken und Behinderteneinrichtungen

• eines der „arbeitsteiligen Großverbrechen“ des NS-Staates und die "arbeitsteilige Täterschaft" innerhalb des NS-Staates

• den Komplex von Rassenlehre, Eugenik und Rassenhygiene
sowie "Euthanasie" im Sinne der "Vernichtung lebensunwerten Lebens"

• das Zusammenspiel von Zustimmung, Verweigerung,
Protest und Widerstand zu den Verbrechen des NS-Staates
und Handlungsspielräumen unter den Bedingungen einer Diktatur

• den Ausgangspunkt und den Beginn einer Entwicklung
von ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschheit. Die "Euthanasie"-Täter und die "Euthanasie"- Mordverfahren kommen bei der Ermordung der europäischen Juden erneut zum Einsatz

• den Umgang mit den Verbrechen des NS-Staates: Gesellschaft
und Staat, Angehörige der Opfer und Institutionen, Kirchen, Diakonie und Caritas zwischen Vergessen und Verdrängung, Erinnerungsverweigerung sowie frühen Formen der Erinnerung, des Gedenkens und umfassender Aufarbeitung.

(Thomas Stöckle in Grafeneck 1940, „Wohin bringt ihr uns ?“,NS-"Euthanasie" im deutschen Südwesten, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.) Stuttgart 2010 Download )

 

Die landes- und regionalgeschichtliche Dimension

Untrennbar verbunden ist der Ort Grafeneck mit der Landesgeschichte Baden-Württembergs, mit all seinen Landesteilen, seinen Städten und Ortschaften. Aus 40 Behinderteneinrichtungen und psychiatrischen Einrichtungen in Baden-Württemberg – 23 im badischen und 17 im württembergischen Landesteil – wurden Opfer in die Tötungsanstalt Grafeneck verbracht. Für diese Einrichtungen, die heute zum allergrößten Teil noch existieren, ist Grafeneck historischer Bezugspunkt schlechthin. (aus Thomas Stöckle, s.o.)

 

Die stadt- und ortsgeschichtliche Dimension

70 Jahre nach der Ermordung von Helene Krötz wurde ihr Schicksal zu einem offiziellen Bestandteil der Urbacher Ortsgeschichte.

Bericht aus der Ratssitzung der Gemeinde Urbach vom 18.5.2010
Anbringung eines „Stolpersteins“ im Bereich des Kirchplatzes zur Erinnerung an die Ermordung Behinderter in der Heilanstalt Grafeneck.

An die Verwaltung wurde das Anliegen herangetragen, auf öffentlicher Fläche zwischen Kirche und Mediathek einen Stolperstein zum Gedenken an die in Grafeneck ermordete Helene Krötz anzubringen. Es soll eine kleine Gedenkfeier geben, ein Termin hierfür steht noch nicht fest.
Die Gemeinderäte befürworten das Anbringen des Stolpersteins und die Kostenübernahme durch die Gemeinde. Es wird angeregt, einen Zuschuss für Exkursionen nach Grafeneck zu bezahlen. Auf Anregung der Gemeinderäte sagt Bürgermeister Hetzinger zu, bezüglich weiterer ermordeter Personen aus Urbach zu recherchieren und den Gemeinderat entsprechen zu informieren.
Der Gemeinderat beschloss einstimmig, der Anbringung eines Stolpersteins für Helene Krötz zuzustimmen und die Kosten hierfür zu übernehmen. ( Quelle)

In der Herkunft der Opfer, aber auch der Täter und Tatbeteiligten liegt neben der nationalen, der landesgeschichtlichen und der regionalen eine weitere Bedeutungsebene, die der stadt- und ortsgeschichtlichen Dimension. Die Opfer stammen aus allen Regierungsbezirken, allen Stadt- und Landkreisen, allen größeren, aber auch einer ungeheuer großen Zahl mittlerer und kleiner Gemeinden Baden-Württembergs. (aus Thomas Stöckle, s.o.)

 

Die Dimension Individuum und Familie

Die Ermordung von 10 654 Menschen und wirkt in die Geschichte von 10 654 Familien hinein. Dieses historische Faktum wirkt fort bis in die Gegenwart. Die Gedenkstätte Grafeneck wird regelmäßig aus der Opfergeneration, aber zunehmend auch von den nachfolgenden Generationen, um Auskunft gebeten über einen oftmals verdrängten und tabuisierten Teil der familiären Geschichte.

„Rückblickend auf das letzte Jahrzehnt erkennt man klar, dass die Zahl der anfragenden Nachkommen und Angehörigen beständig angestiegen ist. Eine Erklärung hierfür mag sein, dass erst die Zeit Barrieren und Hemmungen beseitigt hat und paradoxerweise dadurch die Vergangenheit näher an die Gegenwart herangerückt ist, eine Vergangenheit, die nicht vergeht.“ (Thomas Stöckle, s.o.)

Im Fall der Helene Krötz bestand jahrzehntelang ein undeutliches Familienwissen über ihr Schicksal, das zunehmend in Vergessenheit zu versinken drohte. Erst als Helenes Schwester Paula 2009 starb, fanden Renate Seibold-Völker, Tochter einer vor Jahren verstorbenen Schwester und Bernd Krötz, Sohn eines gefallenen Bruders von Helene, in der Hinterlassenschaft von Paula Krötz Dokumente und Fotos der Ermordeten. Beide begannen nun intensiv nachzuforschen und reisten unter anderem in die Diakonie Stetten
und nach Grafeneck.

Der Karton, in dem Renate Völker und Bernd Krötz Fotos und Dokumente ihrer Tante Helene fanden

B 3 Der Karton, in dem Renate Völker und Bernd Krötz Fotos und Dokumente ihrer Tante Helene fanden.
© Bernd Krötz


2. Geschichte

Oberurbach, 20. April 1919
Geburt von Helene Krötz

Sie ist das achte von neun Kindern der Eheleute Wilhelmine und Friedrich Krötz, die eine Metzgerei und das Wirtshaus ‚Zum Lamm‘ betreiben.

Gasthaus u. Metzgerei Zum Lamm in Oberurbach

B 4 Gasthaus u. Metzgerei Zum Lamm in Oberurbach
© Renate Seibold-Völker

Das Mädchen erleidet eine Hirnhautentzündung. Diagnose von Dr. C. Hartmann: „Helene Krötz ist nach geistiger und körperlicher Verfassung als an Idiotie leidend zu bezeichnen. Sie bedarf steter Aufsicht und Fürsorge und wäre am besten in einer entsprechenden Anstalt unterzubringen.“
(Renate Seibold-Völker, Ermordet in Grafeneck, in: Jahrbuch für Schorndorf und Umgebung, 2011, S. 63 ff)

 

Stetten, 29. Januar 1926
Helene Krötz in der Heil- und Pflegeanstalt

Helene Krötz (1. Reihe Mitte)

B 5 Helene Krötz (1. Reihe Mitte)
© Renate Seibold-Völker

 Nürnberg, August 1929
Hitler auf dem NSDAP-Parteitag

„[…] würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 bis 800.000 der Schwächsten beseitigt, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein.“ ( Quelle)

 

Berlin, 14. Juli 1933
„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"

 

Reichsparteitag Nürnberg, September 1935
Hitler: „Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskranken“

 

Stetten, 1938
Bericht der Pflegerinnen – „Helene fühlt sich geborgen…“

Helene Krötz mit Zöpfen beim Essen

B 6 Helene Krötz mit Zöpfen beim Essen
© Renate Seibold-Völker

 Berlin, 1939:
Geheime Reichssache „Aktion T4“ – Die Ermordung von Helene Krötz und weiteren 70 000 Behinderten und Kranken wird vorbereitet

 

Berlin, 1.September 1939
Ermächtigung zum Massenmord

Hitler beauftragt im Oktober 1939 in einem auf den 1. September 1939 zurückdatierten Schreiben Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt die Befugnisse „namentlich zu bestimmender Ärzte“ zu erweitern, dass „unheilbar Kranken … den Gnadentod gewährt werden kann.“

 

Grafeneck, 6. Oktober 1939
Planungsfahrt – Besuch aus Stuttgart und Berlin

Ministerialrat Dr. Eugen Stähle vom württembergischen Innenministerium, Dr. Herbert Linden vom Reichsinnenministerium und Viktor Brack, Oberdienstleiter in der Kanzlei des Führers besichtigen Grafeneck.

Das Samariterstift Grafeneck

B 7 Das Samariterstift Grafeneck
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck

 

Berlin, 9. Oktober 1939
Runderlass des Reichsinnenministeriums – Versand von Meldebogen nach Stetten

 

Münsingen, 14. Oktober 1939
Räumung Grafenecks für „Zwecke des Reichs“

 

Stuttgart, 23. November 1939
Verlegung von Kranken in den Heil- und Pflegeanstalten

Das Württembergische Innenministerium kündigt die Verlegung einer größeren Anzahl in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Kranken im Auftrag des Reichsverteidigungsministeriums an.

 

Grafeneck, Oktober 1939 – Januar 1940
Umwandlung des ehemaligen Samariterstifts Grafeneck in eine Mordanstalt

 

Grafeneck, 18. Januar 1940
Beginn der Vernichtung von 10 654 Menschen

Ein Landwirtschaftsgebäude wird zur Gaskammer

B 8 Ein Landwirtschaftsgebäude wird zur Gaskammer
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck

 

Stuttgart, 16. Februar 1940
Die württembergischen Anstaltsleiter werden informiert

 

Stuttgart – Stetten, 30. August 1940
Eintreffen erster Transportlisten in Stetten

Anordnung: Verlegung von 150 Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Stetten – Proteste der Stettener Anstaltsleitung

 

Stetten, 10. September 1940
Die grauen Busse fahren vor – Abtransport von 75 Menschen

Die grauen Busse vor der Heil- und Pflegeanstalt Stetten

B 9
Die grauen Busse vor der Heil- und Pflegeanstalt Stetten
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck


Stetten – Grafeneck, 18. September 1940
Transport von Helene Krötz nach Grafeneck – Ermordung durch Gas

Helene Krötz und weitere 59 Menschen werden abgeholt

B 10 Helene Krötz und weitere 59 Menschen werden abgeholt
und am selben Tag ermordet
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck

 

Münsingen – Urbach, 5. Oktober 1940
‚Trostbrief der Landes-Pflegeanstalt‘ Grafeneck

… Helene Krötz unerwartet an Wanderrose mit anschließender Blutvergiftung verstorben …

 

Grafeneck, 13. Dezember 1940
Ende der „Euthanasie“-Morde

 

Hadamar/Hessen, Januar 1941
Tötungsanstalt Hadamar löst Grafeneck ab

 

Berlin, 24. August 1941
Adolf Hitler beendet die „Euthanasie“-Morde. Der Holocaust beginnt.

Die „Vernichtungsexperten der NS-„Euthanasie“ werden in den
Vernichtungslagern des „Holocaust“ eingesetzt.

 

Tübingen, 8. Juni 1949 – 5. Juli 1949
Grafeneck-Prozess vor dem Tübinger Landgericht – Milde Urteile



3. Anlage

Die Gedenkstätte Grafeneck

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Stuttgart -