Menschlichkeit und Bildung (Gellius, Noctes Atticae 13, 17)

Gellius setzt sich hier mit der Bedeutung der Begriffe humanus und humanitas auseinander. Text mit Übersetzung und Fragen zur Bearbeitung und Diskussion.

Bearbeitungsfragen unterhalb des Textes.

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Im 13. Buch seiner Noctes Atticae reflektiert der Autor über bestimmte Wörter und Begriffe. In diesem Text untersucht er verschiedene Bedeutungen der Wörter humanus und humanitas.

Lateinischer Text mit Übersetzung

[1] Qui verba Latina fecerunt quique his probe usi sunt, humanitatem non id esse voluerunt, quod volgus existimat quodque a Graecis φιλανθρωπία (philantropia, Menschenliebe) dicitur et significat dexteritatem quandam benivolentiamque erga omnes homines promiscam, sed humanitatem appellaverunt id propemodum, quod Graeci παιδείαν (paideia, Bildung) vocant, nos eruditionem institutionemque in bonas artis dicimus.

Quas qui sinceriter cupiunt adpetuntque, hi sunt vel maxime humanissimi.

Huius enim scientiae cura et disciplina ex universis animantibus uni homini datast idcircoque humanitas appellata est.

 

Diejenigen, die die Wörter der lateinischen Sprache prägten und diese richtig verwendet haben, vertraten die Meinung, dass Menschlichkeit (humanitas) nicht das bedeutet, was das Volk dafür hält und was die Griechen als philantropia (Menschenliebe) bezeichneten und was damit eine gewisse Umgänglichkeit und ein Wohlwollen gegenüber allen Menschen, wer es auch sei, bezeichnet, sondern sie nannten Menschlichkeit (humanitas) vielmehr das, was die Griechen Bildung (paideia) nennen, wir hingegen Erziehung (eruditio) und Unterricht in den Künsten (institutio).

Alle, die dieses Letztgenannte ernsthaft wünschen und anstreben, sind im wahrsten Sinne menschlich.

Die Sorge um dieses Wissen und die gewissenhafte Bemühung darum ist nämlich von allen Lebewesen allein dem Menschen gegeben und sie wurde daher Menschlichkeit (humanitas) genannt.

[2] Sic igitur eo verbo veteres esse usos et cumprimis M. Varronem Marcumque Tullium omnes ferme libri declarant.

Quamobrem satis habui unum interim exemplum promere.

 

Dass die Alten, v.a. M. Varro und M. Tullius (Cicero) dieses Wort so verstanden haben, das zeigen beinahe alle ihre Bücher.

Daher genügt es, wenn ich einstweilen nur ein Beispiel anführe.

 

 

[3] Itaque verba posui Varronis e libro rerum humanarum primo, cuius principium hoc est: „Praxiteles, qui propter artificium egregium nemini est paulum modo humaniori ignotus.“

 

Deshalb nehme ich die Worte des Varro aus dem ersten Buch über die Sitten der Menschen, dessen Anfang folgendermaßen lautet: „Praxiteles, der wegen seiner überragenden Meisterschaft niemandem unbekannt ist, der auch nur ein wenig human ist."

[4] „Humaniori“ inquit non ita, ut vulgo dicitur, facili et tractabili et benivolo, tametsi rudis litterarum sit – hoc enim cum sententia nequaquam convenit –, sed eruditiori doctiorique, qui Praxitelem, quid fuerit, et ex libris et ex historia cognoverit.

 

„Human“ verwendet er nicht so, wie es im allgemeinen Sprachgebrauch benutzt wird, von einem, der umgänglich, gütig und wohlwollend ist, auch wenn er sich in der Literatur nicht auskennt – dies passt nämlich keineswegs zum Sinn des Satzes – sondern von einem in höherem Maße Gebildeten und Gelehrten, der Paxiteles aus Büchern und aus der Geschichte  kennengelernt hat und weiß, was für eine Persönlichkeit er war.

 

Übersetzer: Tilman Bechthold-Hengelhaupt

Fragen zur Bearbeitung und Diskussion

  1. Gliedern Sie diesen Text. Verwenden Sie dafür die Anregungen aus dem Arbeitsblatt Interpretation: Gliederung von Texten.
  2. Informieren Sie sich über die in diesem Text vorkommenden historischen Persönlichkeiten. Die Autoren M. Tullius Cicero und M. Terentius Varro werden in der Tabelle zur römischen Geschichte dargestellt.
  3. Arbeiten Sie heraus, was nach Gellius den Kern des Begriffes humanitas ausmacht.
  4. Erstellen Sie eine tabellarische Liste der verschiedenen Begriffe, die in diesem Text vorkommen (humanitas, paideia, …) und suchen Sie für jeden dieser Begriffe die im Text gegebenen Definitionen heraus. Sie können auch statt einer Tabelle eine andere grafische Gliederung ausprobieren.
  5. Informieren Sie sich in Ihrem gedruckten Lateinlexikon oder in einem Lateinlexikon im Internet (Linkempfehlungen) über die verschiedenen Bedeutungen der lateinischen Wörter humanus und humanitas.
  6. Lesen Sie den Artikel Humanität im Metzler Lexikon Philosophie (Spektrum.de). Skizzieren Sie die dort beschriebene Geschichte des Wortfeldes Humanität/Menschlichkeit. Prüfen Sie, ob es Gemeinsamkeiten oder Widersprüche zwischen Gellius' Darstellung und der Darstellung im Philosophielexikon gibt, und beschreiben Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
    Zur Vertiefung: Wenn Sie die philosophische Diskussion über die Humanität weiter vertiefen wollen, können Sie auch diesen Text des Philosophen Volker Gerhardt lesen: „Humanität. Die Frage nach dem Menschen neu stellen“ (in: Information Philosophie Heft 4/2019, S. 8 – 15, auch online auf der Seite www.information-philosophie.de)
  7. Erörtern Sie (bzw. diskutieren Sie in der Gruppe):
    1. Ist Gellius' Bild der humanitas für uns heute noch relevant?
    2. Kann man sagen, dass der Autor hier das beschreibt, was man unter Bildung verstehen sollte?
    3. Ist die Schule Ihrer Meinung nach in Gellius' Sinne eine Bildungseinrichtung? Oder hat sich unser Verständnis von Bildung so verändert, dass man aus Gellius' Darstellung keine Anregungen mehr erhalten kann?
  8. Nehmen Sie an, dass Sie für die Schulhomepage einen Text zur Vorstellung des Lateinunterrichts schreiben sollen. Was würden Sie aus Gellius' Text übernehmen?

Vorschläge zur Arbeit mit den Texten

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