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Forschungen

M 1 Herfried Münkler zur Determiniertheit der Ereignisse im Juli 1914?

Für die Entscheidungen des Juli 1914 war insgesamt also ausschlaggebend, dass nicht nur Deutschland den Österreichern und Russland den Serben, sondern auch Frankreich den Russen einen "Blankoscheck" ausgestellt hat. Im Falle eines Krieges gegen die Mittelmächte wusste die russische Regierung Frankreich sicher an ihrer Seite. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte sie in der Serbienfrage mit großer Wahrscheinlichkeit vorsichtiger agiert. Großbritannien hatte den Russen zwar keine expliziten Zusagen gegeben, in St. Petersburg aber durch die in Aussicht gestellte Marinekonvention Erwartungen geweckt, die es nun nicht enttäuschen konnte. Der Schlüssel zum Krieg lag somit in der russischen Hauptstadt. Hätte man dort auf Mobilmachung und Kriegserklärung verzichtet, so wäre es nur zu einem Dritten Balkankrieg gekommen, den Österreich-Ungarn aller Voraussicht nach gewonnen hätte. Bei der politischen Ausgestaltung des Sieges hätten die europäischen Großmächte dann ein gewichtiges Wort mitgesprochen. Als Gegenleistung für die russische Zurückhaltung wäre Serbien nicht von der politischen Landkarte verschwunden, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn der Balkanstaat der Doppelmonarchie ohne äußeren Rückhalt gegenübergestanden hätte; Serbien wäre nur in seinen Expansionsambitionen gezügelt worden. Die Triple Entente hätte sich bei einem solchen Ausgang der Krise vermutlich gelockert, weil die Russen zu dem Ergebnis gekommen wären, dass ihr politisches Ziel, im östlichen Mittelmeer zu einer erstrangigen Macht aufzusteigen, auf diesem Weg nicht zu erreichen war.
Dieses Gedankenexperiment einer kontrafaktischen Geschichte zeigt, dass der große Krieg in Europa keineswegs überdeterminiert war und ohnehin stattgefunden hätte: Wäre in St. Petersburg im Sommer 1914 eine andere Entscheidung gefällt worden, hätten die Pistolenschüsse Gavrilo Princips vom 28. Juni 1914 nie die Bedeutung für den Fortgang des 20. Jahrhunderts bekommen, die sie tatsächlich erlangt haben.

Zitiert nach Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914-18, Berlin: © Rowohlt Berlin Verlag GmbH 2013, S. 100f.


M 2 Christopher Clark zum Kriegsausbruch 1914

Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller, an dessen Ende wir den Schuldigen im Wintergarten über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen. In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen. Wenn man dies anerkennt, so heißt das keineswegs, dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten, die zu Recht die Aufmerksamkeit Fritz Fischers und seiner historischen Schule auf sich zog. Aber die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten. Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv - genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion um den Ursprung des Ersten Weltkriegs weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Joseph-Straße.

Zitiert nach Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog, München: © DVA 2013, S. 716f.


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