Vergil, Aeneis, 2. Buch: Zusammenfassung der Aussagen

Autor: Markus Häberle

Das Sujet ist dem römischen Leser und Hörer so vertraut, dass Vergil die berühmten Vorbilder (Ilias; Euripides: Troades; u. a.) immer wieder direkt oder verfremdet aufklingen lässt. Weitere berühmte Texte sind ebenfalls hörbar. Vergil als poeta doctus.

Im zweiten Gesang nimmt die ganzen Handlung der Aeneis ihren Anfang. Dessen Einfügung als Rückblende in eine Rahmenhandlung ist ein kompositorischer Kunstgriff, der auf die Odyssee zurückgreift.

Aeneas hat sein Damaskus-Erlebnis, wird vom trojanischen Krieger zum fatum- ([Glossar]) bewussten Anführer einer Gruppe von Auswanderern.

Aeneas bleibt Mensch. Er ändert sich nicht als Person. Die neue Mission legt sich über sein Trachten und Sinnen, aber er behält seine Schwächen und Anfälligkeiten. Kreta, Karthago, der Zweikampf mit Turnus ([Glossar]) zeigen, dass Aeneas bei allem Verantwortungsbewusstsein kein Übermensch geworden ist.

Die wiederholten Prophezeiungen ([Glossar]) im Verlauf des ganzen Epos sind notwendig, um Aeneas immer wieder an das Ziel zu erinnern. Er könnte sonst schwach werden.

Die Erweckungserlebnisse des Aeneas bauen aufeinander auf. Er wird peu à peu auf seine Mission eingestellt. Die Epiphanien ([Glossar]) und Vorzeichen ([Glossar]) werden immer präziser, weiten den Horizont immer mehr.

Die Zerstörung Trojas ist nicht aufgrund mangelnder Kampfkraft der Trojaner erfolgt. Die Götter haben massiv eingegriffen, um seinen Untergang zu gewährleisten und dazu auch die Trojaner getäuscht, Warner beseitigt.

Die Vorfahren der Römer sind also nicht im Krieg geschlagen worden, sondern durch das fatum [Glossar] in ein neues Land geführt worden.

Augustus ([Glossar]) griff als junger Mann zu, als sich ihm die Chance bot, Teil der hohen Politik zu werden. Dafür ging er ein hohes Risiko ein, finanziell und existenziell. Er verfolgte seine Ziele mit allen Mitteln; er ging dafür buchstäblich über hunderte und tausende von Leichen. Als der Kampf beendet war, propagierte er den Frieden und eine neue aetas aurea (goldenes Zeitalter) als Anliegen. Sein Charakter blieb derselbe, was z. B. seine Familie, aber auch innenpolitische Gegner nach wie vor zu spüren bekamen.

Wenn man in Aeneas Augustus sucht, könnte man ihn im zweiten Gesang wiedererkennen.

Aeneas ist Kombattant mit höchster Risikobereitschaft und unbedingter Entschlossenheit ; er erkennt an einem Punkt der Handlung, dass er für Höheres bestimmt ist, und legt sein kriegerisches Ego ab bzw. ordnet es einer neuen großen Mission unter und instrumentalisiert den Kampf allenfalls zur Verfolgung seiner Mission.

Vergil ist ein zu großer Künstler, um Aeneas in Hollywoodmanier einer völligen und unmissverständlichen Metamorphose zu unterwerfen. Ebenso wenig konstruiert er eine eindeutige Aeneas-Augustus-Gleichung. Wer Parallelen erkennen will, findet sie immer wieder. Eindeutige Antworten gibt es aber nicht; Vergil gibt dem Leser die Chance, sie zu ahnen oder zu konstruieren, formuliert sie aber nicht. Aeneas ist multidimensional, wie Augustus, wie jeder Mensch. Das Epos zeichnet nicht schwarz-weiß, sondern in Graustufen, im vollen Farbspektrum.