Der Stuttgarter Tumult 1948: Kampf um Mitbestimmung und Soziale Marktwirtschaft

Hintergrund

Zeittafel


 

Juli/August 1948
Nach Einführung der freien Preisbildung bei gleichzeitigem Lohnstopp kommt es zu teilweise erheblicher Teuerung von Produkten in den Westzonen.
Die zuständigen Preisüberwachungsstellen sanktionieren nur selten.
"Kein Mensch kann verkennen, daß die seit Wochen anhaltende Preisentwicklung nicht nur größte soziale Gefahren in sich birgt, sondern auch [...] aus der berechtigten Mißstimmung weitester Kreise über diese Preisentwicklung politische Gefahren drohen." (Arbeitnehmergruppe der CSU, 3.8.1948)

 

Erste Protestwelle - Kaufstreiks und "Anarchie auf den Warenmärkten" (DGB)

In fast allen größeren Städten Bayerns, Hessens, Niedersachsens, Nordrhein-Westfalens und im Südwesten kommt es zu teilweise handgreiflichen Auseinandersetzungen und Kaufstreiks auf den Wochenmärkten, auf denen die Preise bspw. für ein Ei auf 50 Pfennige gestiegen sind.
Die zunehmend von örtlichen Gewerkschaften organisierten Streiks erreichen eine deutliche, aber nicht dauerhafte Preisreduktion. Auf den Kundgebungen werden die Aufgabe der freien Preisbildung, die Bewirtschaftung der Grundversorgung, Lohnerhöhungen, der Rücktritt Erhards und Mitbestimmung in den Betrieben gefordert.  

14. August 1948
Tausende Demonstranten protestieren in Stuttgart unter dem Motto "Herunter mit den Preisen" gegen die Wirtschaftspolitik des Frankfurter Wirtschaftsrates.

25. August 1948
Höhepunkt der Proteste mit 100 000 gewerkschaftlich organisierten Demonstranten in München.

 

Zweite Protestwelle - Oktober/November 1948

20. Oktober 1948
Gewerkschaftlich organisierte Protestkundgebung mit 80 000 Teilnehmern in Mannheim: Rücktrittsforderung an Erhard
Am gleichen Tag finden ebenso in Heidelberg, Karlsruhe und Weinheim Protestkundgebungen gegen "Preiswucher" statt.

22. Oktober 1948
Versammlung der Stuttgarter Betriebsräte unter der Leitung des Gewerkschaftssekretärs Hans Stetter im Zirkus Althoff mit folgendem Beschluss: Die „Arbeiter- und Angestelltenschaft wird dazu aufgerufen, am Donnerstag, dem 28. Oktober 1948 um 13 Uhr die Betriebe und Büros zu verlassen und um 15 Uhr auf den [sic] Karlsplatz gegen die gegenwärtige Preisentwicklung in einer Massenversammlung zu protestieren“.

27. Oktober 1948
Ludwig Erhard verteidigt in einem Vortrag in Stuttgart seine Wirtschaftspolitik. Die Stuttgarter Polizei zieht 800 Polizisten für den Folgetag zusammen.

Demonstranten mit Plakat auf dem Karlsplatz, vermutlich vor dem Beginn der Rede von Karl Stetter. Auf dem Plakat ist zu lesen: „Wir sind gegen die Frankfurter Politik Ehrhardt [sic!] bringt: Not den Armen – Überfluß den Reichen“.

B 2 Demonstranten mit Plakat auf dem Karlsplatz, vermutlich vor dem Beginn der Rede von Hans Stetter. Auf dem Plakat ist zu lesen: „Wir sind gegen die Frankfurter Politik / Ehrhardt [sic!] bringt: Not den Armen – Überfluß den Reichen“.

 

28. Oktober 1948
13.00 Uhr: Mehrere Demonstrationszüge treffen sich auf dem Karlsplatz, der auch schon am 9. November 1918 Ort der Proteste war. Ca. 40 000 Menschen versammeln sich dort, auf dem Schlossplatz und im Schlossgarten weitere 40 000.
15.00 Uhr: Hans Stetter spricht ca. 20 Minuten über Mikrofon zur Menge. Er kritisiert die Währungsreform, insbesondere die freie Preisbildung nach Angebot und Nachfrage als "Verbrechen". Er fordert mehr Mitbestimmung für die Betriebsräte, staatliche Kontrolle der Preise für Grundnahrungsmittel, scharfe Strafen gegen Preistreiber und mehr Freiheit durch die Besatzungsmacht. Zum Schluss ruft er deutlich zum Kampf gegen die aktuelle Situation auf.

 

B 3 Blick auf den überfüllten Karlsplatz, aufgenommen entweder kurz vor oder nach der Rede von Karl Stetter. Im Hintergrund das Alte Schloss mit noch sichtbaren Schäden der Bombenangriffe aus dem 2. Weltkrieg

 

Ein Telegramm an den Frankfurter Wirtschaftsrat wird vorgelesen:
"100 000 Schaffender [sic] demonstrierten am 28.10. in Stuttgart unter Führung der Gewerkschaften gegen Wucher und Preistreiberei. Sie forderten schärfste Massnahmen gegen diese Auswüchse und eine sofortige Änderung des falschen Wirtschaftskurses. Wenn nicht unverzüglich spürbare Abhilfe erfolgt, bleibt nur noch der Weg der Selbsthilfe. Zu dieser Selbsthilfe werden wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln greifen.“
16.00 Uhr: Abziehende Demonstranten versammeln sich in der unteren Königstraße, vor dem Modehaus Stahl versammeln sich ca. 200 Menschen; die Schaufensterscheiben werden eingeworfen. Daraufhin beginnt deutsche Polizei die Straße mit Schlagstöcken zu räumen, wird aber von Fenstern und Dächern aus mit Steinen angegriffen. Die Lage ist kurzzeitig außer Kontrolle.

 

Handgreifliche Auseinandersetzungen in der unteren Königsstraße

B 7  Handgreifliche Auseinandersetzungen vor dem Modehaus Stahl, dessen Vorplatz von der Polizei geräumt wird

 

16.30 Uhr: Die US-Militärpolizei löst mit Tränengas und aufgepflanztem Bajonett die Menge auf, diese versammelt sich vor dem Hauptbahnhof.
Bis 19.00 Uhr: gegen etwa 2000 Demonstranten setzt die US-Constabulary zwölf Panzerwagen sowie berittene Polizei ein. Der Vorplatz ist geräumt.

Bilanz: Mehrere Polizisten und vier US-Soldaten sind verletzt, mindestens ein Demonstrant schwer. 17 Menschen werden festgenommen.

30. Oktober 1948
In einer Vorladung droht US-Militärgouverneur Lucius Clay dem vorgeführten Hans Stetter ein Verbot der Gewerkschaften an. Für Stuttgart wird eine nächtliche Ausgangssperre und ein Versammlungsverbot verkündet (nach einer Woche wieder aufgehoben).

12. November 1948
Heinz Mokros aus Dresden wird von einem US-Militärericht  wegen Tragens eines Plakates und Aufwiegelung der Menge zu zehn Jahren Zuchthaus, drei weitere Demonstranten zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Januar 1949 werden weitere elf Personen von einem deutschen Gericht zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt.


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