Der Begriff der Oikeiosis in Ciceros Schriften

Das von den frühen Stoikern entwickelte Konzept der Oikeiosis (Zueignung der Natur zum Menschen) und seine Abbildung in Ciceros Schriften

Das Thema Oikeiosis: Die Natur und die Lebewesen

Oikeiosis ist ein zentraler Begriff der Philosophie der Stoa. Er kann auf Schriften der beiden Gründer der Schule, Zenon von Kition (Wikipedia) und Chrysippos (Wikipedia), zurückgeführt werden. Der Begriff ist schwer zu übersetzen, zumal vieles an seiner Geschichte unklar ist; dies wird Gegenstand der folgenden Erläuterungen sein. Mit Oikeiosis wird meist ein Vorgang bezeichnet, in dem sich die Natur den Lebewesen so zueignet, dass diese in ihr heimisch werden. In diesem Heimisch-Sein klingt auch die Wurzel des Begriffs nach, nämlich das griechische Substantiv οἶκος (oikos, Haus).


Der griechische Philosoph Zenon

Der griechische Philosoph Zenon, einer der Gründer der Philosophenschule der Stoa. Glyptotek Kopenhagen. Römische Kopie eines griechischen Originals aus dem 3. Jh. v. Chr.


Oikeiosis als Thema im Lateinunterricht

Da in diesem Gedanken das Naturverständnis der antiken Philosophie angesprochen ist, eignet er sich in besonderem Maße für eine Behandlung im Unterricht, denn es kann sinnvoll nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen dem antiken Denken über die Natur und dem modernen Verständnis gefragt werden, wie es z. B. im Biologieunterricht vermittelt wird. In der Tat spielen Erörterungen in diesem Sinne auch in der aktuellen Forschung zum antiken Oikeiosis-Begriff eine gewisse Rolle. Neben der Interpretation und Übersetzung im Lateinnterricht (ab Klasse 10) bietet sich eine fächerverbindende Projektarbeit oder auch die Vergabe von GFS-Themen an. Mit der Erörterung dieses Begriffs kann auch die Leitperspektive Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in den Lateinunterricht eingebunden werden. Siehe auch: Die Leitperspektive BNE im Bildungsplan.

Oikeiosis in den philosophischen Schriften Ciceros – die Textstellen

Oikeiosis ist das Thema in zwei Textpassagen aus Ciceros philosophischen Schriften, die beim Landesbildungsserver als Lektürexte mit Erläuterungen angeboten werden:

Zwei weitere Texte Ciceros spielen für die Rekonstruktion des Begriffs eine wichtige Rolle:

  • Ein Absatz im 3. Buch von De finibus bonorum et malorum (3, 16-26) gilt als die Stelle in Ciceros Werk, an der Zenons Ausführungen zum Thema am reinsten und genauesten wiedergegeben werden. Der lateinische Text steht in der Bibliothek des Packard Humanities Institute und bei Perseus, eine deutsche Übersetzung bei der privaten Online-Bibliothek Zeno.org.
  • Ein verwandter Text Ciceros, ebenfalls aus De finibus bonorum et malorum (3, 62-66), ist beim Lehrerfortbildungsserver mitsamt einer Übersetzung vorhanden. Dort findet man auch weitere Bearbeitungsfragen.

Grundzüge des Oikeiosis-Gedankens – didaktische und historische Vorüberlegungen

Jeder Versuch, den Begriff der Oikeiosis zu klären, ist mit dem Problem konfrontiert, dass man in den antiken Texten verschiedene Versionen der Begriffsklärung findet und dass die zentralen Grüdnungstexte der Theorie, die von Zenon von Kition und Chrysipp verfasst wurden, verloren gegangen sind. Es lässt sich daher auch nicht mit Sicherheit sagen, ob Ciceros Darstellung zuverlässig ist. Die verschiedenen oben erwähnten Textstellen lassen sich auch nicht eindeutig auf einen Punkt bringen, d. h. sie legen verschiedene Schwerpunkte. Vor allem im 5. Buch von De finibus stellt Cicero die Lehre des Philosophen Antiochos von Askalon dar (Erläuterungen siehe in der Einführung in Ciceros philosophische Werke). Antiochos, dessen Gedanken auch wiederum verloren gegangen sind und daher v. a. aus Ciceros Werken rekonstruiert werden müssen, hatte aber einen eigenen Begriff der Oikeiosis entwickelt. Für den Unterricht kann es daher nicht um eine exakte Rekonstruktion des Begriffs gehen, denn diese ist wegen der unsicheren Quellenlage selbst den Fachleuten kaum möglich bzw. sie ist in der Forschung umstritten. Einige aktuelle Forschungstexte sind am Ende dieser Seite aufgelistet. Der aktuellste dieser Texte, Jacob Kleins The Stoic Argument from oikeiōsis, ist für die Behandlung im Unterricht bei weitem zu komplex. Es ist aber festzuhalten, dass die Unsicherheit über die ursprüngliche Bedeutung und die weitere Entwicklung des Begriffs den Kern des Begriffs selbst betrifft und nicht nur Nebenfragen.

Grundzüge des Oikeiosis-Gedankens – einige Thesen

Die folgenden Ausführungen orientieren sich an dem erwähnten Aufsatz von Jacob Klein (Klein 2016; alle hier zitierten Quellen werden im letzten Abschnitt dieser Seite aufgeführt). Die vorliegenden alt-stoischen Quellen zur Oikeiosis gehen von bestimmten Annahmen aus (Klein 2016, S. 151 f.): Jedes Lebewesen besitzt die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Das folgern die Stoiker aus Beobachtungen an Neugeborenen, aber auch an Tieren aller Art. Darum wird in den Texten des Landesbildungsservers zum Thema Oikeiosis auch das Bild des Orang-Utans verwendet.


Orang Utan im Urwald von Indonesien

Fotografen: Peter Mayer und Thomas Fuchs. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Fotografen.

Was verbindet Mensch und Tier? Welche Wünsche und Ziele hat dieser Orang Utan, der frei im Urwald von Indonesien lebt? Sind seine Wünsche und sein Blick auf die Welt unserem Blick ähnlich? Solche Fragen haben sich die Philosophen bereits in der Antike gestellt.


Diese erste Wahrnehmung der Neugeborenen, und zwar der Tiere wie der Menschen, ist vorbegrifflich, aber sie ist eine Art Quelle für die Einsichten, die das Lebewesen für sein Überleben benötigt. Dieser Aspekt des Überlebens ist auch eine der offenen Fragen, die an das Konzept gestellt werden können, erinnert er doch stark an egoistische Motive. Zunächst geht es aber darum, dass das Lebewesen auf der Basis dieser ersten Erkenntnis seinen eigenen Zustand bewahrt (lateinisch status - vgl. De finibus 5, 26: Textseite). Diesen Zustand und seine Erhaltung erkennt das Lebewesen als sein Ziel an. Das griechische Wort für Ziel ist telos (τέλος), das lateinische lautet finis, womit auch der Titel von Ciceros Schrift angesprochen ist. Insgesamt bezeichnet man diese stoische Auffassung der Natur als teleologisch, also auf Ziele ausgerichtet. Hier ergeben sich interessante Fragen nach der Vergleichbarkeit dieser Ideen mit der modernen Biologie, die solche vorgegebenen Ziele im Lichte der Evolutionstheorie Darwins verneint.

Aus der Erkenntnis dieses von der Natur gegebenen Zieles entwickelt sich dann beim Menschen im Reifeprozess die Einsicht in das richtige Handeln. An dieser Stelle beobachtet Jacob Klein (Klein 2016) die entscheidenden Unterschiede zwischen der ursprünglichen Theorie der Stoa, soweit sie sich überhaupt rekonstruieren lässt, und den an Antiochos angelehnten Theorien, denen Cicero folgte: Die Stoiker gingen offenbar davon aus, dass es der Geist (gr. πνεῦμα, pneuma) ist, der für eine Einheit zwischen den ersten Wahrnehmungen und dem erkennenden Denken des erwachsenen Menschen sorgt und damit auch für die Geltung ethischer Haltungen. Die Welt und die in ihr lebenden Wesen sind nach stoischer Lehre von einer einzigen, durchgehenden rationalen Struktur geprägt. Diese rationale Kosmologie kennt keinen Bruch; jedes Wesen verwirklicht nämlich auf seine Weise ihre Struktur, wenn es seiner aufgetragenen Aufgabe folgt.

Die Einsicht in die von der kosmischen Struktur über den Geist vermittelte Aufgabe ist Voraussetzung für eine Ausführung der Aktionen, die dieser Aufgabe entsprechen. Passen diese Aktionen zur rationalen Struktur des Kosmos, dann sind sie vernünftig und damit auch gut. Auf diese Weise wird die Brücke zur Ethik geschlagen – so kann man die Rekonstruktion zusammenfassen, die Jacob Klein (2016) anbietet. Gut ist nämlich nach stoischer Lehre nur die Tugend (lat. virtus), die aus der vernünftigen Einsicht folgt, nicht aber die Selbsterhaltung an sich. Bei Cicero hingegen lässt sich dieser Gedanke der kosmologischen Einheit der Vernunft nicht nachweisen. Vielmehr, so die These Kleins, sehen Cicero und die Philosophen, denen er folgt, an diese Stelle eine Art Bruch, nämlich zwischen dem Tier und dem noch nicht vernünftigen Menschen, also dem Kind, einerseits, und dem erwachsenen, vernünftigen Menschen andererseits. Die ursprüngliche stoische Lehre hingegen nahm an, dass es in der ganzen Natur nirgendwo eine Art des Impulses (also z. B. des Überlebenstriebes) gibt, die nicht auf Wahrnehmungsakten beruht (vgl. Klein 2016, S. 170).

Cicero – so die neuere These – legt in dem Textauszug aus De officiis (Textseite) großen Wert auf den Unterschied zwischen Mensch und Tier, während die gemeinsame Verwurzelung in der kosmisch grundierten Vernunft in den Hintergrund tritt. Hier ist auch eine weitere Quelle Ciceros zu beachten, nämlich Panaitios von Rhodos (Wikipedia), dem er die Grundgedanken des Werkes über die Pflichten verdankt (vgl. Lefèvre 2001).
Die ursprüngliche stoische Theorie der Oikeiosis kennt nach Klein (2016, S. 165 f.) keine Unterscheidung zwischen einer primären, auf die Selbsterhaltung gerichteten und einer sozialen Oikeiosis, die für das Zusammenleben sorgt. Vielmehr gehe es den Stoikern darum, eine in Richtung auf Perfektion gestufte Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung nachzuweisen.

Die Behandlung der Auszüge aus Ciceros Texten zur Oikeiosis im Unterricht

Für den Lateinunterricht könnnen die Lehrkräfte die Schwierigkeiten, die der Begriff der Oikeiosis bereitet, in der Weise fruchtbar machen, dass sie den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe geben, möglichst viele Facetten der Bedeutung aufzufinden und diese in ein ihnen selbst schlüssig erscheinendes System zu bringen, das dann mit auch mit modernen Erkenntnissen verglichen werden kann. Nach der neueren Diskussion in der Pädagogik ist derjenige Unterricht am ertragreichsten, der auf kognitive Aktivierung setzt (Kunter/Trautwein 2013). Kognitiv aktivierend wirken besonders offene Fragen und kontroverse Themen und Thesen, weniger aber das Auswendiglernen vorgegebener Lerninhalte. Im Lichte dieser neueren Erkenntnisse, die mit guten empirischen Daten gestützt sind, eignet sich ein solcher offener, umstrittener Begriff also in hohem Maße für anregendes Lernen.

Es wird daher empfohlen, bei der Behandlung dieses Textes die offenen Fragen auch offen zu lassen und zudem auf die entsprechenden Diskussionen im Biologieunterricht einzugehen. Die Lernenden können dann ihr Wissen in die Diskussion über den Text einbringen. Auch alles Wissen über die Wahrnehmungsfähigkeiten von Tieren und von neugeborenen menschlichen Babys kann in dieser Erörterung, die an eine der Kernfragen des menschlichen Selbstverständnisses rührt, zur Sprache gebracht werden.

Neben den oben aufgelisteten Textseiten steht auch ein Arbeitsblatt für Schülerinnen und Schüler: Mensch und Natur - Grundzüge der Oikeiosis zur Verfügung.

Folfgende nach zunehmender Komplexität gestuften Möglichkeiten einer Behandlung im Unterricht können hier vorgeschlagen werden - es sind auch Kombinationen dieser Modelle denkbar:

1. Schwerpunkt: Lektüre der Übersetzungstexte; das Thema Oikeiosis wird von den Schülern als Hintergrundthema (Hausaufgabe) eingebracht oder im Lehrervortrag vermittelt.

2. Mit einem Schülerreferat (z. B. GFS) wird das Thema in den Unterricht getragen; es folgt die Übersetzung. Am Rande werden die Thesen zur Oikeiosis und zum Verhältnis von Mensch und Tier diskutiert.

Der Komplexität des Themas werden die folgenden Vorgehensweisen eher gerecht:

3. Wie in 2. beginnt die Einheit mit einem Schülerreferat, dessen Thesen in der Übersetzung der beiden Cicero-Text überprüft wird. Gleichzeitig recherchieren die Schülerinnen und Schüler anhand ihres Biologie-Lehrbuches oder im Internet, worin die Unterschiede zwischen den antiken und den modernen Vorstellungen bestehen.

4. Empfohlene umfassende Behandlung des Themas: Die Unterrichtseinheit wird in Abstimmung mit den Kolleginnen und Kollegen geplant, die in den Klassen Biologie unterrichten. Sie beginnt mit der Übersetzung von Cicero, De officiis 1, 13 f. Die Schülerinnen und Schüler halten ihre Ergebnisse zur Frage, wie das Verhältnis von Mensch und Tier in diesem Text gedacht wird, in einem Lernplakat oder einem Wiki-Eintrag im Moodle-Kurs der Klasse fest. Sie beginnen die Arbeit an dem Arbeitsblatt Mensch und Natur - Grundzüge der Oikeiosis und erstellen das dort angeregte Schaubild. Es schließt sich die Übersetzung von Cicero, De finibus 5, 24 an. Die am Ende dieses Dokuments gestellten Aufgaben und Fragen werden danach bearbeitet, ferner wird die im Arbeitsblatt vorgeschlagene abschließende Diskussion geführt.

Literatur und Links zum Thema Oikeiosis

  • Robert Bees (2011): Kosmische Selbsterhaltung: Soziobiologie und Oikeiosis, in: Prometheus. Rivista di Studi classici 27 (2011), online: http://dx.doi.org/10.14601/prometheus-11178
    In diesem Artikel, der im freien Internet zugänglich ist, bietet der Autor eine Kurzfassung seines Buches zum gleichen Thema:
  • Robert Bees (2004): Die Oikeiosislehre der Stoa. I. Rekonstruktion ihres Inhaltes (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie; Bd. 258), Würzburg
    Hierzu gibt es eine Rezension im Rezensionsjournal Sehepunkte.
  • Petra Gemünden (2012/2015): Abschnitt Oikeiosis im Artikel Stoa im Lexikon der Bibelwissenschaft, Autorin: Petra Gemünden, permanenter Link: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/53988/
  • Malte Hossenfelder (2000): Artikel Oikeiosis, in: Der neue Pauly Bd. 8
  • Jacob Klein (2016): The Stoic Argument from oikeiōsis, in: Victor Caston (Hg./ed.): Oxford Studies in Ancient Philosophy (Volume L, Summer 2016), Oxford 2016, S. 143-200
    Grundlegend und aktuell, aber sehr komplex und voraussetzungsreich. Es gibt eine Rezension bei Bryn Mawr Classical Review, ferner kann man einen großen Teil des Aufsatzes bei Google Books lesen.
  • Eckard Lefèvre (2001): Panaitios´ und Ciceros Pflichtenlehre. Vom philosophischen Traktat zum politischen Lehrbuch (Hisotria Einzelschriften Bd. 150), Stuttgart
    Zu Ciceros Schrift De officiis und seiner Quelle
  • Mareike Kunter/Ulrich Trautwein (2013): Psychologie des Unterrichts (Standard Wissen Lehramt), Paderborn (Schöningh)
  • Bernd Kleimann (2008): Eintrag Oikeiosis, in: Metzler Lexikon Philosophie (hg. v. Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard), 3. Auflage, Stuttgart (Metzler), S. 427
  • Der Wikipedia-Artikel zum Thema Oikeisosis ist informativ; er stellt auch den Ansatz von Robert Bees dar (siehe den zweiten Eintrag in dieser Liste), berücksichtigt aber noch nicht den Aufsatz von Jacob Klein (Stand Februar 2018)

Autor: Tilman Bechthold-Hengelhaupt

Letzte Aktualisierung dieser Seite: Februar 2018


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