Unruhige Zeiten in der Schuhstadt Tuttlingen - August Springer, ein Arbeiter erzählt über Arbeiteralltag und Industrie um 1900

Hintergrund

Zeittafel


 

1884
wurde August Springer im württembergischen Allgäu, in Isny geboren. Die Familie zog jedoch bald nach Kempten um, wo der Vater in einer Schäftefabrik als Lederzuschneider und Kommissionsreisender Arbeit fand. Seine Kindheit verbrachte Springer also in Kempten.


Um 1890
besuchte er dort die ersten Klassen der Volksschule.


Zwischen 1890 und 1900
zog die Familie nach Tuttlingen, da der Vater Arbeit in der Schuhindustrie suchte. Tuttlingen galt zu diesem Zeitpunkt als Schuhstadt.


Entwicklung der Schuhstadt Tuttlingen

B 4 Postkarte  aus Tuttlingen 1914, die Stadt wurde überall im Land mit Schuhen in Verbindung gebracht

Auf die Frage, weshalb es gerade in Tuttlingen viele Schuhmacher gab, sind verschiedene Gründe anzuführen. Tuttlingen besaß einige Gerbereien, d. h. die Schuhmacher konnten günstig das benötigte Leder einkaufen. Aufgrund der kargen Böden und des rauen Klimas waren viele Landwirte dazu gezwungen einem Nebenerwerb nachzugehen. Die Qualität der in Tuttlingen produzierten Schuhe war so gut, dass nicht nur der Bedarf der Einheimischen gedeckt wurde. Die Tuttlinger Schuhmacher besuchten auch regelmäßig Märkte und Messen im badischen Nachbarland, im Elsaß, in Schaffhausen und Zürich, so wurden die Waren auch über  die Stadt hinaus bekannt. Es waren robuste Schuhe, Arbeitsschuhe, die hergestellt wurden, die auch von Holzfällern und Flößern im Schwarzwald, von Bergbauern der Schweiz und Schäfern auf der Alb getragen wurden.

1870er Jahre
Der großen Nachfrage nach Tuttlinger Schuhen konnten auch die größeren Werkstätten nicht nachkommen, so dass auch Kleinmeister, so genannte Stückwerker, herangezogen wurden. Das Leder wurde von den Großmeistern zugerichtet, die Schäfte gesteppt und die Sohlen beigefügt. Die Stückwerker bekamen dann die ausgeschnittenen Oberteile, die Bestandteile des Stiefelbodens einzeln in die Hand, um zu Hause die Fußbekleidung zu vollenden. Die Zutaten (Fournituren) mussten sie selbst stellen, bei den Zwickern waren dies die für das Aufzwicken des Schaftes auf den Leisten benötigten Nägel (Tacks und Channell) wie auch Spezialleim.  Die meisten Stückwerker wohnten nicht in der Stadt, sondern in den umliegenden Dörfern. Das „Stückwerken“ bildete die Vorstufe zur späteren Industrialisierung der Schuhherstellung, da bereits hier die Arbeitsteilung teilweise eingeführt wurde. Jedoch war dieser Schritt erst möglich, als die Schuhmacher-Ordnung von 1687 im Jahr 1828 durch eine neue Gewerbeordnung ersetzt wurde, fortan war die Zahl der beschäftigten Gesellen in einem Meisterbetrieb nicht mehr begrenzt. Die Entwicklung von den handwerklichen Großmeistern zum industriellen Fabrikbetrieb ging fließend vonstatten.
In Tuttlingen gab es zunächst keine kapitalistischen Gründungen, die Fabrikanten blieben anfänglich im Grunde Handwerksmeister.

19. Juli 1835
Baden trat dem Deutschen Zollverein bei, nun gewann die Freiburger Messe eine große Bedeutung als Absatzort für Tuttlinger Schuhwaren.

12. Februar 1862
Der Erlass des Gesetzes über Gewerbefreiheit gab einen wichtigen Anstoß zur weiteren Entwicklung der Industrialisierung.
Allmählich wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Handarbeit durch Maschinen verdrängt. Das hatte zur Folge, dass größere Fabrikräume benötigt wurden und die Stückwerker wurden zunehmend zu Schuhfabrikarbeitern.

1870/71
Während und nach dem deutsch-französischen Krieg gingen die Verkaufszahlen der in Tuttlingen produzierten Schuhe in die Höhe. Armeen wurden mit Schuhen aus Tuttlingen ausgestattet, so auch die Bourbaki-Armee, die in den Schweizer Alpen kapitulieren musste und nun von Schweizern unterstützt wurde.

 

B 7 Darstellung der handwerklichen Produktion von Schuhen im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck

Somit war das Kapital für notwendige Investitionen wie Fabrikbauten und Maschinen vorhanden, das verlieh dem Prozess der Industrialisierung Aufschwung.
Informationen aus: Kaufmann, E., Tuttlingen – Schuhstadt, in: Tuttlinger Heimatblätter 2004, Folge 67, hg. von Stadtverwaltung Tuttlingen, Tuttlingen 2004, S. 83 – 91.

Ende der 1890er
beendete August Springer in der Schuhstadt Tuttlingen seine Schulzeit und wurde in einer Schuhfabrik als Zwicker angelernt. Es sollten beinahe 15 Jahre Tätigkeit als Schuhfabrikarbeiter in Tuttlingen werden.
In dieser Zeit war die Mechanisierung der Schuhindustrie weiter fortgeschritten als in der Herstellung chirurgischer Instrumente. Es waren um die Jahrhundertwende etwa 21 Schuhfabriken in Tuttlingen zu verzeichnen, zehn Jahre später sogar 28.

 

B 12 Diese Karte von Tuttlingen informiert den Reisenden schnell und übersichtlich, wo er Hotels und Schuhfabriken findet, damals waren es 28 Schuhfabriken, um 1910

Eine große Zahl von in diesem Industriezweig beschäftigten Arbeitern schloss sich zu einer Ortsgruppe des Schuhmachervereins zusammen, der die Interessen der Arbeiter vertrat. Das Statistische Landesamt in Stuttgart ermittelte für das Jahr 1900 einen ortsüblichen Arbeitstaglohn von 1,90 – 2,00 Mark. Gearbeitet wurden bis 1894 noch zwölf Stunden am Tag, von morgens um sechs bis zwölf Uhr und nachmittags von ein bis sieben Uhr. Setzt man die Arbeitszeit und den Lohn in Relation, kann man sich vorstellen wie schwer es war, diesen geringen Lohn zu erwerben. Im genannten Jahr konnte eine Arbeitszeitverkürzung erreicht werden, so wurde der Arbeitsbeginn auf sieben Uhr morgens gelegt.

1899
kam es zu einem weiteren kleinen Arbeitskampf. Hierbei erreichten die Arbeiter eine  Arbeitszeitverkürzung auf zehn Stunden.

1900
Die meisten Unternehmer waren aus kleinen Handwerksbetrieben herausgewachsen und standen noch selbst am Zuschneidetisch oder an der Maschine.
Zur Verschlechterung der Verdienstverhältnisse der Arbeiter trug bei, dass in manchen Bereichen die Arbeiter ihre Fournituren (Zutaten) selbst mitbringen mussten, oder dass dafür ein Teil des Lohnes einbehalten wurde. Gerade bei den Zwickern war das  so, sie hatten die Nägel, die für das Aufzwicken des Schaftes auf dem Leisten nötig waren und auch den Spezialleim selbst zu stellen.
Im Februar 1900 forderten die Zwicker in den Betrieben Rieker & Seitz, Heinrich Henke  Söhne und Gebrüder Binder zehn Prozent mehr Lohn oder die Lieferung der Fournituren durch den Fabrikanten. Diese Bitte wurde von den Unternehmern abgelehnt.
Darauf erneuerten die Zwicker ihre Forderung und  wollten beide Aspekte, zehn Prozent mehr Lohn und die Fournituren. Die Unternehmer machten keine Zugeständnisse, so kam es zu Verhandlungen vor dem Arbeiterausschuss und vor dem Gewerbegericht, jedoch für die Zwicker ohne Erfolg.
Der Verein der Tuttlinger Schuhfabrikanten entschied, in allen Betrieben auf den 7. März allen Mitarbeitern, also nicht nur den Zwickern, zu kündigen, so dass es zu einer Aussperrung kommen musste. Von dieser Entscheidung waren 18 Schuhfabriken betroffen. Nur wenigen Berufsgruppen wurde nicht gekündigt, z.B. den Fertigmachern. Durch ihre Weiterarbeit war es den Unternehmern möglich den Lieferaufträgen nachzukommen.
Die Arbeiterschaft war äußerst verärgert über die Entscheidung der Unternehmer schließlich waren es die Zwicker in lediglich drei Betrieben, die Forderungen gestellt hatten. Der Ärger hatte zur Folge, dass die Arbeiter nicht die 14 Tage Frist einhielten, sondern sofort in den Streik traten. Die Unternehmer nahmen dies zum Anlass zu behaupten, es handle sich nicht um eine Aussperrung, sondern um einen Generalstreik, der von einigen Hetzern verursacht worden sei.
Johannes Schwald, ein Kaufmann, der einen kleinen Schuhhandel betrieb, setzte sich für die Belange der Arbeiter ein. Er leitete unzählige Arbeiterversammlungen. Die lokale Tageszeitung „Gränzbote“ berichtete von Härte auf beiden Seiten, Arbeiter und Unternehmer. Der Streik bzw. die Aussperrung brachte für viele Familien echte Not mit sich, so dass sich die Sichtweise von den berechtigten Forderungen der Zwicker etwas verzerrte. Die Herren Simon und Siebert waren von der Gewerkschaft zur Hilfe in Tuttlingen bestellt worden. Für die in der Gewerkschaft organisierten Arbeiter gab es auch finanzielle Unterstützung während des Streiks.
Versammlungen waren zumeist sehr gut besucht und fanden im „Dreikronensaal“, im „Waldhorn“ oder im „Kaiserhof“ statt. Einzelne Fabriken hielten auch interne Besprechungen ab.
Mitte April 1900 eröffnete der Verein der Schuhfabrikanten, vom Dienstag 17. April 1900 an, die Fabriken wieder zu öffnen, die Arbeitsbedingungen sollten aber dieselben sein wie Anfang März. Am 16. April 1900 sprach sich eine Versammlung von rund 1000 Arbeitern gegen die Wiederaufnahme der Arbeit aus. Doch der Widerstand bröckelte, am Dienstag erschienen  in allen Betrieben etliche Arbeiter. Schließlich entscheiden sich die Arbeiter am 27. April mehrheitlich dafür, die Arbeit wieder aufzunehmen. Tatsächlich konnte keine Verbesserung der Lohnverhältnisse erreicht werden.
Informationen aus: Streng, H., Der große Arbeitskampf der Tuttlinger Schuhmacher im Jahre 1900, in: Tuttlinger Heimatblätter 1975, hg. von Stadtverwaltung Tuttlingen, Folge 38, S. 129 – 135.
Der junge August Springer erlebt diesen Streik mit und berichtet darüber aus der Perspektive eines Arbeiters, als Zwicker.
Er setzt sich später selbst aktiv für die Belange der Arbeiter ein, möchte Humanisierung und Demokratisierung der industriellen Arbeitswelt erreichen.

1909
Wurde Springer hauptamtlicher Sekretär des Landesverbandes der Evangelischen Arbeitervereine Württembergs, er zog nach Stuttgart und war überall im Land als Redner unterwegs und agierte als sozialpolitischer Publizist.

1918
Aus dem Ersten Weltkrieg kehrt er mit einer Hirnverletzung zurück, die ihn sein weiteres Leben lang beschäftigte.

1918 – 1933
Während der Weimarer Republik nahm er seine kirchliche Verbandstätigkeit wieder auf. Für Springer war es zeitlebens sehr wichtig, die soziale Frage zu lösen, indem die Bildungsmöglichkeiten der arbeitenden Menschen gefördert sowie die christlichen Werte im Kampf zwischen Proletariat und Kapital bewahrt werden.

1933
geriet August Springer mit Pfarrern der württembergischen Deutschen Christen in Konflikt und wurde seines Amtes enthoben und der Volksbund wurde gleichgeschaltet. Während der nationalsozialistischen Herrschaft war Springer  ein Schreib- und Redeverbot auferlegt.

1954
Später schreibt er seine Erlebnisse, Bewertungen und Eindrücke in seiner Autobiografie „Der Andere  - das bist Du. Lebensgeschichte eines reichen Armen Mannes“, in Tübingen erschienen, nieder. Friedemann Maurer bewertet die Lebensgeschichte als eine der „[…] farbigsten und ergiebigsten Quellen für die Lebenssituation in Altwürttemberg um 1900 […]“.
 
1962
August Springer stirbt zurückgezogen in Waldhausen bei Tübingen.

Informationen aus: Maurer, Friedemann, Protestantismus und Industrialisierung – über Tuttlingen in der Wilhelminischen Epoche, in: Das evangelische TuttlingenGlaubensernst – Gewerbefleiß – Gestaltungskraft, hg. von Junginger, Jens, Tuttlingen, 2017, S. 90 - 94.

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -


Der Text dieser Seite ist verfügbar unter der Lizenz CC BY 4.0 International
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

Bitte beachten Sie eventuell abweichende Lizenzangaben bei den eingebundenen Bildern und anderen Dateien.