Hintergrund

Die Ambivalenz moderner Lebenswelten um 1900: Beiträge Karlsruher Juden zur Modernisierung ihrer Stadt und konservative Gegenstimmen

Hintergrund

Bedeutung

Das "lange" 19. Jahrhundert kann als Epoche der "klassischen Modernisierung" betrachtet werden. Auch in Deutschland vollzogen sich zahlreiche umfassende Veränderungen wie die Durchsetzung der Marktwirtschaft, die Industrialisierung, die Herausbildung der Klassengesellschaft, die Nationalstaatsbildung, die Konstitutionalisierung und beginnende Demokratisierung der politischen Herrschaft und gegen Ende des Jahrhunderts, wenn man den Blick auf die Stadt richtet, die Entstehung moderner Urbanität und neuer Konsum- und Freizeitformen, wofür zum Beispiel das Aufkommen der Warenhäuser und der neuen Sportart Fußball stehen.

Somit kann auch das Deutsche Kaiserreich nicht eindimensional als Wegmarke eines pathologisch verlaufenen deutschen Sonderwegs und als autoritäter Obrigkeitsstaat betrachtet werden, da es eben viele Gesichter hatte und auf manchen Gebieten eine erstaunliche Fortschrittlichkeit aufwies.

Das vorliegende Modul will anhand von ausgewählten, schülernahen Beispielen den Durchbruch der Moderne in Karlsruhe zeigen: Es veränderte sich um 1900 das Stadtbild Karlsruhes, zwei große Warenhäuser eröffneten in der Karlsruher Kaiserstraße ihre Pforten und etablierten damit ein neues Konsumverhalten, Walther Bensemann brachte den Fußballsport nach Karlsruhe und machte die Stadt zu einer Hochburg des Fußballs in Süddeutschland, und schließlich legten 1899 in Karlsruhe erstmals in Deutschland an einer ordentlichen Schule Mädchen das Abitur ab.

Zur politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung Deutschlands trugen auch die dort lebenden Juden, die sich in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" verstanden, aktiv bei. Gerade dies sollte im Geschichtsunterricht stärker Berücksichtigung finden, der oft in zu einseitiger Weise dazu tendiert, die Juden als passive Objekte der Geschichte und lediglich in der Rolle als Verfolgte und Opfer zu zeigen. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, im Sinne der Multiperspektivität jüdische Stimmen zu Gehör kommen zu lassen. All dies lässt sich anhand des gewählten lokalen Beispiels realisieren.

Die oben angesprochenen Modernisierungsprozesse erfassten Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur nicht zeitgleich, mit gleichem Tempo und mit gleicher Intensität, vielmehr sind eher "partielle Modernisierungen", "Modernitäten" (Jürgen Kocka) zu beobachten. Dies gilt auch für das deutsche Judentum selbst, das keineswegs einen monolithischen Block darstellte.

So standen beispielsweise um 1900 in Karlsruhe neben dem liberalen Judentum, das sich ganz mit der deutschen Nation und Kultur identifizierte und sich von der jüdischen Religion teilweise entfernt hatte, die orthodoxe "Israelitische Religionsgesellschaft" und eine kleine Ortsgruppe der "Zionistischen Vereinigung für Deutschland" (ZVfD).

Weiter wurde der Prozess der Modernisierung in der deutschen Gesellschaft aufmerksam reflektiert und zeitgleich begrüßt und abgelehnt. So wurden der Industrialisierung rückwärtsgewandte Gegenbilder entgegengesetzt, der Urbanisierung Großstadtfeindschaft, neben der Emanzipation des deutschen Judentums vollzog sich die Entstehung des rassisch fundierten Antisemitismus und neben einem sich modernisierenden Frauenbild stand weiterhin das traditionell-konservative Frauenbild.

Angefeindet wurden auch, wie eine lokale und eine regionale Quelle zeigen, die neuen Warenhäuser, denen "unreelle" Geschäftspraktiken unterstellt wurden, und die neue Sportart Fußball, die zum Teil als "undeutsch", unästhetisch und brutal bewertet wurde. Auf diese Weise wird den Schülerinnen und Schülern die Ambivalenz der Moderne am Beispiel Karlsruhes deutlich.

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Karlsruhe -


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