Von der Südsee nach Tübingen: das Dilemma der Völkerkunde – Die ethnologische Sammlung des Museums der Universität Tübingen

Methodenvorschlag

Verlaufsplanung mit Materialien 

Zeit/
Phase
Inhalte/
methodische Hinweise
Material
Sek. II
1. Doppelstunde: Objekte der Südsee in Tübingen – Ästhetik und Spiritualität in westlichen Sammlungen
1.1 Einstieg/ Entstehen einer Faszination und einer Fragehaltung: Objekte der Ethnologischen Sammlung Die Schülerinnen und Schüler werden mit einer Reihe von kunstvoll angefertigten Objekten konfrontiert (AB 1, F 1); in einem zweiten Schritt lernen sie den Namen, die Funktion und die Herkunft der Objekte kennen. Dabei sollte die Präsentation weitgehend kommentarlos durchgeklickt werden; Nachfragen können im Anschluss beantwortet werden. (Bei ethnologischen Fachbegriffen (z.B. Malanggan, Poupou) kann auf spätere Arbeitsmaterialien verwiesen werden).

Hieraus sollte eine Fragehaltung generiert werden.

Die Fragen der Schülerinnen und Schüler werden gesammelt und geordnet:

  • Woher kommen diese Objekte (historisch, geografisch, gesellschaftlich)?
  • Welche Funktion haben sie in der Herkunftsgesellschaft?
  • Warum sind sie in Tübingen und wie sind sie hierhergekommen?
  • Warum wurden die Objekte in Europa gesammelt und welche Haltung verbirgt sich dahinter?
  • Warum sind die Objekte immer noch hier? Müssen sie nicht zurückgegeben werden? Wenn ja – an wen? Wie findet man die Vorbesitzerinnen oder Vorbesitzer, wenn die Objekte vor über 100 Jahren in die Sammlung kamen?
  • Verbirgt sich dahinter nicht ein Ausdruck von kolonialistischer und/oder rassistischer Haltung?
Im weiteren Verlauf des Moduls sollen diese Fragen als strukturierendes Element genutzt werden, sodass in fünf Erarbeitungsschritten die Fragen geklärt und reflektiert werden können. Diese Erarbeitungsschritte können aus Zeitgründen auch durch Lehrerinformationen ersetzt werden. (Sollten nicht alle Fragen auf dem Horizont der Schülerinnen und Schüler auftauchen, können diese von der Lehrkraft ergänzt – oder vernachlässigt – werden.)
AB 1 als Präsentation
1.2 Erarbeitung 1: Die Herkunft der Objekte und ihre Funktion in den Herkunftsgesellschaften Die erste Frage, mit der sich die Schülerinnen und Schüler beschäftigen, lautet:

Woher kommen diese Objekte (historisch, geografisch, gesellschaftlich) und welche Funktion haben sie in der Herkunftsgesellschaft?

Hierzu verorten sie die zuvor gezeigten Objekte auf einer Karte (AB 2a) und lernen die Funktion von zwei ausgewählten Objekten, dem Poupou (AB 2b) aus Neuseeland und der Malanggan-Schnitzwerke (AB 2c) aus Papua-Neuguinea, näher kennen.

Dabei wird nicht nur deutlich, wie eng der Zusammenhang zwischen Schnitzkunst, Architektur und Ahnenverehrung ist, sondern auch wie vielfältig der Ausdruck dieser Kunst und wie eng die religiöse Dimension damit verbunden ist. Die Schülerinnen und Schüler werden hier schon für das Besondere der außereuropäischen Kulturen sensibilisiert: Es geht bei diesen Kunstwerken nicht allein um eine ästhetische Dimension, wie wir sie im globalen Norden wahrnehmen, sondern in erster Linie um eine spirituelle.

AB 2a

AB 2b

AB 2c 
1.3 Erarbeitung 2: Der Weg nach Tübingen – das Poupou In einer zweiten Erarbeitungsphase beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit der Objektbiografie des Tübinger Poupou. Dabei wählt die Lehrkraft zwei Varianten, wie die Schülerinnen und Schüler den Weg von der Südsee nach Tübingen rekonstruieren:
  • AB 3a: mithilfe eines Mystery, bei dem die einzelnen Schritte rekonstruiert werden sollen (schwieriger).
  • AB 3b: anhand eines linearen Textes, der den Weg beschreibt (einfacher).

Dabei ist die erste Variante deutlich zeitintensiver und kognitiv herausfordernder für die Schülerinnen und Schüler.

In beiden Varianten wird klar, dass das Objekt eine sehr komplexe Geschichte in sich trägt und erst in den letzten 25 Jahren in seiner Bedeutung erkannt wurde. In jedem Fall wird spätestens hier die Frage nach Provenienz, Rückgabe und Restitution aufkommen.

AB 3a

AB 3b

 
1.4 Optionale Vertiefung: Der Weg in die Südsee - Modevorstellungen Dass der kulturelle Austausch nicht nur in einer Richtung verlief, sondern auch europäische Vorstellungen in die Gesellschaften der Südsee eindrangen, wird durch die hybride Entwicklung der Tapa-Kleider (AB 3c) deutlich. Neben den Objekten selbst wird hier die Rolle von europäischen Besucher und Besucherinnen der Südsee am Beispiel von zwei Gruppen, Missionaren und Walfängern – näher beleuchtet.
Dieser Unterrichtsschritt ist optional.
AB 3c  
1.5 Integration: Die Rolle der Ethnologen Mithilfe von AB 4 lernen die Schülerinnen und Schüler einen wichtigen Akteur kennen, der konstitutiv für die Sammlung in Tübingen ist: den Mediziner und Ethnologen Augustin Krämer. Seine Reisen und deren „Früchte“ werden bewusst wertungsfrei dargestellt, sodass die Schülerinnen und Schüler selbst zu einer Positionierung finden können. In diesem Sinne sollte der Leseauftrag auch tendenzfrei formuliert sein, z.B.: „Einzelne Sammlungen sind oft das Erbe einzelner Sammler.“ Erläutere diese Aussage am Beispiel der Tübinger Sammlung.

AB 4

 
1.6 Reflexion: Einen Standpunkt entwickeln In einem weiteren Schritt sollen sich die Schülerinnen und Schüler dann zu den bisherigen Erkenntnissen positionieren und, darauf aufbauend, weitere Fragen entwickeln, die in der zweiten Doppelstunde bearbeitet und beantwortet werden können. Diese Fortführung ist grundsätzlicherer Natur und spricht die Völkerkunde/Ethnologie als Fach allgemein an (s.u.).  
1.7 optionale Hausaufgabe: Recherche in der ethnologischen Sammlung Als Rechercheauftrag, der in der nächsten Stunde einbezogen werden soll, können die Schülerinnen und Schüler sich mit weiteren Objekten der Tübinger Sammlung vertraut machen, indem sie auf dem „E-Museum“ recherchieren und sich z.B. ein Objekt aussuchen, das sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern vorstellen.

Erstelle eine ein- bis zweiseitige Präsentation zu einem Objekt (auch: Foto) deiner Wahl  aus der Ethnologischen Sammlung. Benutze dafür das Angebot des E-Museum.

 
2. Doppelstunde: Das Fach Ethnologie und seine Sammlungen – eine Verpflichtung für die westlichen Gesellschaften?
2.1 Einstieg, HA-Auswertung und Leitfrage: Warum wurden die Objekte in Europa gesammelt und welche Haltung verbirgt sich dahinter? Die Schülerinnen und Schüler stellen ihre Ergebnisse vor. Dabei sollte das anschließende Unterrichtsgespräch auch auf die Kriterien ihrer Auswahl kommen: Warum gerade dieses Objekt?
Ausgehend von dieser Reflexion sollen sich die Schülerinnen und Schüler in die Forschungshaltung der Ethnologie versetzen: Was sind deren Leitinteressen? Mit welcher Haltung wurde gesammelt? Wer sammelte?
 

Impuls durch Schülerinnen und Schüler

2.2 Erarbeitung 1: Die Ethnologie und ihre Museen Warum wurden die Objekte in Europa gesammelt und welche Haltung verbirgt sich dahinter?

Entweder arbeitsteilig in Partnerarbeit oder arbeitsgleich in zwei Schritten informieren sich die Schülerinnen und Schüler über die Forschungsinteressen des Fachs Ethnologie. Dabei sollten sie zwischen einer historischen Position um die Wende zum 20. Jahrhundert und der heutigen Haltung unterscheiden. Anschaulich wird dies am Beispiel der Völkerkundemuseen, deren ursprünglicher Konzeption und Intention und ihrer Weiterentwicklung zu heutigen Museen der Weltkulturen. Hier könnte man die Debatten um die Umbenennungen einzubeziehen – diese zeigen deutlich, wie das Fach sich über die Zeit wandelte, sein Selbstverständnis und seine Inhalte infrage stellte und reflektierte.

  • AB 5a: Das Fach Ethnologie: Erläutere die Grundannahmen des Fachs Ethnologie, dessen Voraussetzungen und verschiedene Forschungsansätze. Sind diese deiner Ansicht nach interessant? Die Ethnologie als Fach sieht sich vermehrt grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Ist diese deiner Meinung nach berechtigt? Begründe.
  • AB 5b: Die Idee des Völkerkundemuseums: Das Völkerkundemuseum ist ein Produkt des späten 19. Jahrhunderts. Erläutere dessen Ziele. Erörtere, inwiefern diese Ziele heute noch relevant sind. Was hat sich überlebt, was ist noch aktuell? Gibt es deiner Ansicht nach Probleme bei der Form der Musealisierung?

Aus einer heutigen Sicht heraus werden die Schülerinnen und Schüler die Art und Weise der Aneignung vieler Kulturgüter, die westliche Haltung der Superiorität und die Profanierung zweifellos hinterfragen oder kritisieren.

Die Frage nach dem Völkerkundemuseum kann auch noch vertieft diskutiert werden mithilfe der Argumente, die sich in einer Debatte der taz finden.

AB 5a

AB 5b
2.3 Erarbeitung 2: Restitution? Warum sind die Objekte immer noch hier? Müssen sie nicht zurückgegeben werden? Wenn ja, an wen? Wie findet man berechtigte Erben und Erbinnen/Nachfahren und Nachfahrinnen?

Die Frage der Restitution ist inzwischen eine, die annähernd jedes ethnologische Museum bewegt. Dabei ist jedoch zwischen unterschiedlichen Situationen zu unterscheiden:

Gibt es überhaupt Rückgabeforderungen? An wen wären die Objekte zu restituieren? Wie sind die Sammlungen in den Besitz der einzelnen Objekte gelangt – soweit das überhaupt noch nachvollziehbar ist? Eine grundsätzliche Einigkeit besteht inzwischen bei sog. „human remains“, also Schädeln und weiteren menschlichen Überresten – diese werden heutzutage weitgehend widerspruchslos rückerstattet, sofern man eruieren kann, woher sie stammen. Bei Kunstgegenständen ist die Lage schon sehr viel schwieriger, weil es viele Museumsverantwortliche in Europa gibt, die – mit unterschiedlich guten Argumenten – dafür plädieren, dass diese Objekte in ihren jeweiligen Sammlungen verbleiben sollen. Zum Teil wird mit einem „Weltmuseum“ argumentiert – dagegen spricht, dass diese Museen sich zumeist im globalen Norden befinden und die Menschen des globalen Südens kaum die finanziellen Möglichkeiten für Reisen haben. Hier wird vorgeschlagen, Museen zu errichten, die wir aus dem Norden besuchen. Zumal die Menschen vor Ort dann ihre Geschichte kennenlernen könnten. Eine Möglichkeit zur Lösung der Probleme wird z.B. in der Digitalisierung gesehen. Dennoch scheint sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel zu vollziehen.

Mithilfe einer grundsätzlichen Handlungsanleitung zum Umgang mit kolonialem Sammlungsgut des Deutschen Museumsbundes (AB 6a) und am Beispiel einer Auswahl von fünf ganz konkreten Objekten (AB 6b) sollen die Schülerinnen und Schüler durchspielen, wie solche Verhandlungen verlaufen können.

  • EA/GA: Informiert euch über den Umgang mit Rückgabeforderungen (AB 6a) und wählt ein oder zwei Objekte aus (AB 6b), auf die ihr euch nach der Lektüre als Gruppe einigt. Führt daraufhin die Verhandlungen zwischen Herkunftsgesellschaft und Museumsleitung. Dazu übernehmen  zwei Schülerinnen oder Schüler die Position des Fordernden mit postkolonialem Hintergrund, zwei andere Schülerinnen oder Schüler die Position einer Museumsleitung; sammelt zuvor Argumente für eure Position und das jeweilige Objekt.
  • Die Verhandlungen werden dann vor dem Plenum der Klasse möglichst so geführt, dass jedes Objekt mindestens einmal behandelt wird.
Im anschließenden Gespräch mit der Klasse soll jenseits der Rollen, die vorher eingenommen worden sind, über das Dilemma vieler Museen in Europa gesprochen werden. Dabei sollte die Lehrkraft auch darauf achten, dass die Positionierungen der Schülerinnen und Schüler nicht zu rigoros geraten und beide Seiten im Blick behalten, z.B. den Aspekt der Kooperation mit den Herkunftsgesellschaften sowie einen Dialog auf Augenhöhe – weg vom erhobenen Zeigefinger des globalen Nordens.
AB 6a
AB 6b
2.4. Integration und Urteilsbildung: Kolonialismus und Rassismus als westliche Denkhaltung

Verbirgt sich dahinter nicht ein Ausdruck von kolonialistischer und/oder rassistischer Haltung?

Über der Fragestellung des Moduls liegt eine grundsätzliche: Wie stark ist das westliche Denken (noch immer) von rassistischen und/oder kolonialistischen Werthaltungen geprägt – vielfach ohne dass es uns überhaupt bewusst ist? Diese grundlegende Frage, die den Zugang zu vielen gesellschaftlichen Debatten ebnet (bis hin zum sog. Historikerstreit 2.0), kann zum Abschluss des Moduls aufgenommen werden. Dazu bieten sich vier Herangehensweisen an: die über Definitionen (AB 7a), die über aktuelle Statistiken (AB 7b), die über die Reflektion des Begriffs Rasse, der als solcher wissenschaftlich nicht haltbar ist (AB 7c), und die über die Frage, wie man mit kolonialen Denkmalen umgeht (AB 7d). 

  • Beurteile, inwiefern ethnologische Sammlungen heute ein Ausdruck von Kolonialismus und Rassismus sind und wie sie gegen diesen Eindruck vorgehen können. (AB 7a)
  • Ist der Kolonialismus noch gegenwärtig? Beurteile, inwiefern aus diesen Statistiken eine Haltung von Kolonialismus und /oder Rassismus spricht.(AB 7b)
  • Rassismus: Geschichte einer Ideologie: Bewerte, inwiefern Rassismus heute noch eine Kategorie ist, die sich in unserem Denken widerspiegelt. Die GRÜNEN-Abgeordnete Aminata Toure aus Schleswig-Holstein sagt: „Es gibt keine Orte in Deutschland ohne Rassismus.“ Würdest du ihr zustimmen oder widersprechen? Wo erkennst du Rassismus in deinem Lebensumfeld? Hier könnte man aktuell z.B. auf die Bewegung „Black Lives Matter“ eingehen. (AB 7c)
  • Sturz von kolonialen Denkmäler: Symbolpolitik oder notwendige Auseinandersetzung? Erörtere. (AB 7d)

Die Lehrkraft kann nicht zuletzt aufgrund des Zeitbudgets entscheiden, welchen Weg bzw. welche Wege die Schülerinnen und Schüler beschreiten sollen.

AB 7a

AB 7b

AB 7c

AB 7d

  


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle  Tübingen -


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Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

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