Lateinische Bibliothek

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M. Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum 2, 57: Kritik an Epikur

 

Das Gute wird nicht aus dem Gedanken an den Nutzen getan, sondern weil eine Stimme der Natur und das Pflichtgefühl es befehlen.

Kommentar und Einführung in den Text

Im ersten Buch von De finibus bonorum et malorum lässt Cicero den Epikureer Torquatus zu Wort kommen. Das zweite Buch ist einer Kritik an Epikur gewidmet.

In seiner Antwort auf die Rede des Torquatus (vgl. De finibus 1, 42 und De finibus 1, 43) betont Cicero im hier wiedergegebenen Kapitel, dass die Orientierung an der Lust in bestimmten Situationen in die Irre führt: dann nämlich, wenn es niemanden gibt, der den Handelnden (in moralisch zweifelhaften Situationen) beobachten kann. In solchen Situationen kann man nämlich annehmen, dass die Tat ohne Strafe oder Tadel bleiben wird. Cicero erläutert das an verschiedenen Beispielen; ein mehrfach variiertes Beispiel ist das von dem Sterbenden, der einem einsamen Zeugen aufträgt, sein Erbe einem Nachkommen zu übergeben. Der Ehrenmann, so Cicero, wird hier das Erbe übergeben, auch wenn er mehr Nutzen davon hätte, es sich selbst widerrechtlich – aber von anderen unbemerkt – anzueignen.

Als Jurist kannte Cicero eine besonders schwierige Situation aus der Praxis: Das Vokonische Gesetz bestimmte, dass eine Frau nicht als Universalerbin eingesetzt werden konnte. Ein Ehemann, der seine Frau als Erbin einsetzen wollte, musste daher das Erbe einem Freund anvertrauen und hoffen, dass dieser das Erbe wirklich nach seinem Tod an die Ehefrau weitergibt. Auf eine solche Situation spielt Cicero in dem ersten Beispiel des Textes an.

Über den Text

Grammatikthemen: Periodenbau, Accusativus cum infinitivo (AcI).

Der Text wurde vereinfacht. Den Originaltext findet man bei der Online-Bibliothek PHI Latin Texts.

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Text und Übersetzungshilfen

Text

Übersetzungshilfen

2, 57

Quam multa vero iniuste fieri possunt, quae nemo possit reprehendere!

 

vērō: aber

2, 58

Si te amicus tuus moriens rogaverit, ut hereditatem reddas suae filiae, nec usquam id scripserit nec cuiquam dixerit, quid facies?

hērēditās, hērēditātis, f. Tabellensymbol: das Erbe

reddere, reddō, reddidī, redditum Tabellensymbol: aushändigen, geben, zurückgeben

usquam bzw. quisquam: in Verbindung mit einer Verneinung (hier ist die Verneinung nec) bedeutet usquam „nirgends“ bzw. quisquam „niemand“; nec umquam … nec cuiquam daher: aber nirgends … und niemandem

Tu quidem reddes;

ipse Epicurus fortasse redderet, ut Sextus PeducaeusSextus PeducaeusSextus Peducaeus: Sextus Paeducaeus, der Sohn des Sextus. Sex. Peducaeus (Vater; gest. um 49 v.Chr.; Sohn eines gleichnamigen Politikers aus dem 2. Jhdt. v.Chr.) war als Quaestor mit Cicero in Lilybaeum. Cicero erwähnt ihn öfters als Beispiel für ein tugendhaftes Leben. Sein Sohn mit gleichem Namen war mit Cicero befreundet (darum schreibt Cicero „noster“: mein Freund). Sex. Peducaeus (Vater) war von dem Ritter (eques) Caius Plotius Nursinus, über den nichts weiter bekannt ist, als Erbe eingesetzt worden, weil Plotius seine Frau nicht als Erbin einsetzen konnte (siehe die Erläuterung zum vorangehenden Satz). Peducaeus gab aber das Erbe, Plotius' Wunsch entsprechend, an Plotius' Frau weiter. Im Hintergrund steht das Vokonische Gesetz (siehe die Einleitung zu diesem Text)., Sex. f., is qui hunc nostrum reliquit effigiem et humanitatis et probitatis suae filium, cum doctus, tum omnium vir optimus et iustissimus.

 

Sex. f.: der Sohn des Sextus

effigiēs, effigiēī, f. Tabellensymbol: das Bild, das Sinnbild. Hier in übertragenem Sinne gemeint: Sextus Peducaeus (der Sohn, der zur Zeit der Niederschrift von De finibus noch lebte) ist ein Sinnbild der Menschlichkeit und des Anstands seines verstorbenen Vaters, der diese Eigenschaften an den Sohn (hunc nostrum ... filium) weitergab.
Effigiem hat die Funktion eines Prädikativums: „als Sinnbild“.

cum doctus, tum...: sowohl gelehrt als auch insbesondere...

probitās, probitātis, f. Tabellensymbol: der Anstand, die Ehrlichkeit (Substantivierung zu probus: anständig)

Nemo enim scivit eum rogatum esse a Caio Plotio, equite RomanoCaius PlotiusPlotius war der Ritter, der seine Frau als Erbin eingesetzt hatte (siehe den Kommentar zu Peducaeus). Plotius hatte seinen Freund Peducaeus gebeten, das Erbe an seine (Plotius') Frau weiterzugeben. splendido, Nursino, et tamen ultro ad mulierem venit eique nihil opinanti viri mandatum exposuit hereditatemque reddidit.

ultrō: freiwillig

opinārī Tabellensymbol: ahnen

expōnere: darlegen, eröffnen;
mandatum exponere: hier den letzten Willen eröffnen.

Der folgende Satz wurde verändert. Original bei der Online-Bibliothek PHI Latin Texts.

Tu idem certe fecisses!

Ipsi enim vos,

qui omnia ad vestrum commodum et, ut ipsi dicitis, ad voluptatem referatis,

tamen ea facitis,

e quibus apparet vos non voluptatem , sed officium sequi, plusque rectam naturam quam rationem pravam valere.

ipsī vos: gemeint sind die Epikureer

referre, referō, rettulī, relātum (ad): (eine Sache auf eine andere) beziehen

ratio prava

pravus: falsch, verzerrt, verkehrt

ratio prava: die verkehrte Theorie

Nonne eo intellegis maiorem vim esse naturae?

eo: Abl. Sg. zu id. Übersetze daraus

2, 59

Si scieris, inquit Carneades, aspidem occulte latere uspiam, et velle aliquem imprudentem super eam assidere, cuius mors tibi emolumentum futura sit, improbe feceris, nisi monueris ne assidat, sed inpunite tamen.

Quis enim coarguere possit te scisse?

Carneadēs: Karneades, griechischer Philosoph

aspis, aspidis, f. Tabellensymbol: die Viper

uspiam: irgendwo

imprudens Tabellensymbol: ahnungslos, unvorsichtig

assidere (super): sich auf etwas setzen

scisse: Inf. Perfekt Aktiv zu scire

coarguere: vorwerfen

Sed nimis multa.

Perspicuum est enim, nisi aequitas, fides, iustitia proficiscantur a natura, et si omnia haec ad utilitatem referantur, virum bonum non posse reperiri.

proficīscī (a/ab) Tabellensymbol: entstehen (aus)

ad utilitatem referrī: sich vom Nutzen ableiten lassen

reperīre Tabellensymbol: finden

 

Anzahl der Wörter des Textauszugs De finibus 2, 57-59: ca. 200 Wörter


Quellen

Der Kommentar nimmt Hinweise aus dieser kommentierten Textausgabe auf:

Cicero: De finibus bonorum et malorum / Über das höchste Gut und das größte Übel, hrsg. u. kommentiert von Harald Merklin, Stuttgart (Reclam) 1989

sowie aus diesem Lexikon:

Der Kleine Pauly, München 1975, Eintrag Peducaeus, Bd. 4, Sp. 581.

Weiterarbeit

  • Entweder mit dem Themenkomplex Epikurs Lehre von der Freundschaft: Erstes Buch - Verteidigung Epikurs: De finibus 1, 65
  • Oder mit einem Auszug aus dem fünften Buch, zum Thema Oikeiosis (Übereinstimmung zwischen dem Menschen und der Natur): De finibus 5, 24
    Der Text enthält Anregungen zur Diskussion.


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