"Wohin soll ich gehen?" - Die Situation jüdischer DPs in Stuttgart und die Haltung der Bevölkerung

Hintergrund

Zeittafel 


Als die Alliierten 1945 Deutschland besetzten, trafen sie im Gebiet der späteren westlichen Besatzungszonen auf etwa 6,5 bis 7 Millionen „displaced persons“: Zwangsarbeiter, Zwangsverschleppte, Kriegsgefangene, ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge und Osteuropäer, die entweder freiwillig in Deutschland Arbeit gesucht hatten oder 1944 vor dem Einmarsch der Roten Armee geflohen waren. Für ihre Versorgung war die bereit 1943 gegründete „United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA)“ zuständig. Sie fasste die Ausländer gleich nach Ende der Kampfhandlungen in meist leer stehenden Kasernen zusammen. Ziel war ihre möglichst rasche Repatriierung.

Allerdings wollten nicht alle in ihre Heimat zurückkehren. Da gab es z.B. Polen, Tschechen und Slowaken, die nicht in ihre kommunistischen Heimatländer zurückkehren wollten, oder russische Kriegsgefangene, die Angst vor stalinistischer Verfolgung hatten. Ukrainische und baltische Kollaborateure fürchteten in ihrer Heimat als Kriegsverbrecher verfolgt zu werden. Eine verhältnismäßig kleine Gruppe bildeten die jüdischen Überlebenden. Es wird angenommen, dass etwa 50.000 Juden der nationalsozialistischen Vernichtung entkommen waren. Aufgrund der hohen Sterblichkeit nach der Befreiung sollen tatsächlich aber nur 30.000 überlebt haben. Die Zahl der jüdischen DPs stieg jedoch ab Frühjahr 1946 an, als es zu einer Fluchtbewegung von Polen nach Deutschland kam. Ein Teil dieser Juden stammte aus dem östlichen Teil Polens, der am 17. September 1939 von den Sowjets besetzt worden war. Zunächst nach Sibirien deportiert, kehrten sie nach Ende des Krieges nach Polen zurück, wo allerdings ein antisemitisches Klima herrschte, da die Polen in den Zurückkehrenden lästige Eindringlinge sahen, die wieder ihren alten Besitz in Anspruch nehmen wollten. Es kam zu offenen Pogromen. In der Folge versuchten immer mehr polnische Juden, die DP-Camps in den Westzonen zu erreichen, um von dort aus nach Palästina auszuwandern.

Jüdische DPs polnischer Herkunft waren auch in Stuttgart untergebracht. Allerdings handelte es sich hier zunächst um durch die Rote Armee aus dem Ghetto in Radom in das Deutsche Reich Zwangsverschleppte. Für deren Unterbringung ordnete die amerikanische Militärregierung die Beschlagnahmung von 51 Wohnungen in der Reinsburgstraße im Stuttgarter Westen an. In der folgenden Zeit kamen immer mehr Juden aus dem Raum Radom nach Stuttgart auf der Flucht vor Pogromen bzw. in der Hoffnung, überlebende Verwandte zu finden. Für deren Unterbringung mussten weitere deutsche Familien ihren Wohnungen in der Reinsburgstraße verlassen.

B 2 Titelblatt des im DP-Lager entstandenen Fotoalbums von Alexander Fiedel

 

Das Lager in Stuttgart-West war im Gegensatz zu vielen anderen DP-Camps kein abgeschlossenes Lager. Die Reinsburgstraße war eine öffentliche Durchgangsstraße und es lebten weiterhin Deutsche in Wohnungen, die nicht von der Beschlagnahmung betroffen waren. Manche DPs wurden in Privatwohnungen einquartiert, wo sie gemeinsam mit deutschen Mietern lebten.
Dennoch galt die Reinsburgstraße als musterhaftes DP-Camp. Die Versorgung durch die UNRRA war gewährleistet. Früh hatte sich zudem eine funktionierende Selbstverwaltung entwickelt. Es gab eine Volks- und eine Berufsschule, eine Theaterbühne, eine Bibliothek und einen Sportklub, eine Talmudschule, eine Synagoge und ein Ritualbad, eine koschere Küche, eine Klinik mit zehn Betten und im Kulturhaus das "Café Tel Aviv".

 

B 3 Küche und Verwaltung des DP-Camps, fotografiert von Alexander Fiedel

 

Da die Lagerinsassen durch die UNRRA gut versorgt waren und auch Waren erhielten, die bei den Deutschen sehr begehrt waren, wie z.B. Zigaretten und Schokolade, entwickelte sich in der unmittelbaren Nachbarschaft des Camps am Westbahnhof ein Schwarzmarkt wie nur an zwei, drei anderen Stellen in der Stadt. Das war der Stuttgarter Polizei ein Dorn im Auge. Sie konnte aber nicht dagegen vorgehen, da DP-Camps – rechtlich und polizeilich – exterritoriales Gebiet waren. Die Ordnung dort hielt die jüdische Lagerpolizei aufrecht, darüber hinaus war die amerikanische Militärpolizei zuständig.

 

B 4 Jüdische Lagerpolizei, fotografiert von Alexander Fiedel

 

Im März 1946 beantragte die Stuttgarter Polizei bei der amerikanischen Militärregierung eine Razzia mit der Begründung, im DP-Lager würden sich Schwarzmarktwaren befinden. Diese eskalierte innerhalb kurzer Zeit. Auf der Straße kam es zum gewaltsamen Zusammenstoß zwischen der mit Gewehren und Pistolen bewaffneten Polizei und den Bewohnern der Reinsburgstraße. Dabei wurde der aus Radom stammende ehemalige Auschwitz-Häftling Samuel Danziger, der gerade erst in Stuttgart seine Frau und seine Kinder wiedergesehen hatte, von einem Polizisten erschossen. Erst jetzt schritt die amerikanische Militärpolizei, die die Razzia mit einigen Beamten begleitet hatte, ein und befahl der deutschen Polizei den Rückzug.

Die Stuttgarter Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen als notwendige Maßnahme im Kampf gegen den Schwarzmarkt. Tatsächlich aber trug sie die Verantwortung für die Eskalation und den Tod von Samuel Danziger. Als Reaktion auf den Tod von Samuel Danziger verbot die Militärregierung wenig später der deutschen Polizei den Zutritt zu DP-Lagern.
Doch nicht nur der Stuttgarter Polizei waren die DPs ein Dorn im Auge. Für die meisten Deutschen galten sie als Fremdkörper, Unruhestifter und eben Schwarzhändler. Eine Auseinandersetzung mit dem deutschen schuldhaften Handeln während des Nationalsozialismus oder den antisemitischen Ausschreitungen in Polen und dem DP-Problem fand bis zum Zeitpunkt der Lagerauflösung im Sommer 1949 nicht statt.


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Stuttgart -


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