„…dass ich mit der Vergasung der Geisteskranken direkt ganz bestimmt nichts zu tun hatte“
Der Tübinger Grafeneck-Prozess 1949

Hintergrund

Bedeutung


 

B 4 Wider das Vergessen: Gedenkstätte und Gedenkbuch für die Opfer der „Euthanasie“ in Grafeneck

 

Die „Euthanasie-Morde“ an mindestens 10.654 Menschen auf dem Gelände von Schloss Grafeneck im Jahr 1940 gelten als größtes Verbrechen, das im deutschen Südwesten je stattgefunden hat - abgesehen von den Gräueln der Kriege.

Grafeneck war das erste von insgesamt sechs Vernichtungszentren, in denen Menschen ermordet wurden, denen die Nationalsozialisten ihr Lebensrecht absprachen. Man nimmt heute an, dass von Oktober 1939 bis März / April 1941 in Grafeneck ca. 90 bis 100 Personen am Vollzug der sogenannten „Aktion T 4“ beteiligt waren. Die Spur vieler Täter lässt sich von Grafeneck aus in die nationalsozialistischen Vernichtungszentren des Ostens verfolgen. Grafeneck kann damit auch als Prototyp der nationalsozialistischen Vernichtungsstätten, in denen „systematisch-industriell“ ermordet wurde, gelten.

Die Aufarbeitung der Verbrechen in Grafeneck in den beiden Grafeneck-Prozessen in Freiburg (1947/1948) und Tübingen (1949) dokumentiert die ab 1948 einsetzende Entwicklung zu einer deutlich weicheren Linie der Rechtsprechung gegenüber NS-Tätern. Die lebenslänglichen Haftstrafen für die beiden Angeklagten des Freiburger Prozesses wurden in der Revision in elf- bzw. zwölfjährige Haftstrafen umgewandelt. Fünf Angeklagte des Tübinger Prozesses wurden freigesprochen, drei Angeklagte zu insgesamt lediglich acht Jahren und sechs Monaten Haftstrafe wegen „Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bzw. wegen „Totschlags“ verurteilt. Aufgrund der Anrechnung der Untersuchungshaft, der Aussetzung zur Bewährung bzw. aus „gesundheitlichen Gründen“ musste keiner der Verurteilten seine Haftstrafe antreten.

Das geringe Strafmaß des Tübinger Grafeneck-Prozesses verdeutlicht die Schwierigkeiten der Strafverfolgung, einem „arbeitsteiligen Großverbrechen“ nicht nur in der historischen, sondern auch in der juristischen Aufarbeitung und damit in der Einschätzung der individuellen Verantwortung der Täter gerecht zu werden. Die historische Aufarbeitung, insbesondere die präzise Ermittlung der Opferzahlen und die scharfe Ächtung des Massenmordes gelten heute als großes Verdienst des Tübinger Prozesses. Die scharfe Ächtung der „heimtückischen und verlogenen Ausrottungsaktion“ steht jedoch in signifikantem Gegensatz zu den milden Tübinger Urteilen. Historiker sprechen heute von einem vor Gericht deutlich erkennbarem apologetischem Unterton bei der Bewertung des Handelns des Grafenecker Tötungspersonals. Anstelle „täterschaftlichen Handelns“ rückt die „Gehilfenschaft“ der Angeklagten in den Vordergrund, die Berliner Kreise werden als eigentliche Verantwortliche des Massenmordes dargestellt. Die Allgegenwart der Massenpropaganda wird ebenso betont wie die Aussichtslosigkeit von Widerstand.

Der Grafeneck-Prozess von 1949 nimmt damit ein Grundproblem der jungen Bundesrepublik vorweg: die unzureichende Strafverfolgung der NS-Verbrechen.

  

B 6 Wider das Vergessen: Der Alphabet-Garten in Grafeneck 

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -


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