Demokratische Orientierung durch Geschichte? Der Fall „Kalle“ aus Offenburg 1847

Hintergrund

Bedeutung


 

Freiheit und Unfreiheit

Freiheit und Unfreiheit bedingen sich wechselseitig. Wie stark diese beiden menschlichen Grunderfahrungen aufeinander bezogen sind, wird am Beispiel der Demokratiegeschichte von Vormärz und Revolution deutlich. In diese Zeit fällt der Übergang vom Untertanen zum Staatsbürger. Die hier erfüllten oder verfehlten Möglichkeiten von Freiheit verändern dauerhaft die Bedingungen, unter denen Freiheit und Unfreiheit erfahren und wahrgenommen werden.

Wer Schülerinnen und Schülern Geschichte von Freiheit und Demokratie vermittelt, kann über Erfahrungen von Unfreiheit nicht schweigen. Aus Erfahrungen von Unfreiheit entstehen in Vormärz und Revolutionszeit Erwartungen an eine Politik der Freiheit, entsteht „tätige Freiheit“ (R. Dahrendorf). In diesem Erfahrungsraum entwickeln Zeitgenossen nämlich ihre Vorstellungen von Freiheit und Recht. Von dort tragen sie ihre Vorstellungen hinaus in die Zeitungen und Flugblätter, auf die Marktplätze und Straßen, in die Vereine und Clubs, in die Wirtshäuser und Parlamente, auf die Barrikaden und Schlachtfelder. Erfahrung mobilisiert und aktiviert die Zeitgenossen in ihren jeweils unterschiedlichen, z.T. gegensätzlichen sozialen Bezügen und Rollen.

Freiheit und Recht

Keine Freiheit ohne Recht. Recht, wenn es selbst auf Freiheit ausgerichtet ist, ist eine notwendige Bedingung für die Erfahrung von Freiheit. Häufig stehen daher im Unterricht Grundrechtsdeklarationen und -kataloge im Mittelpunkt.

Doch weder der Wortlaut noch das Pathos, mit denen sie (beispielsweise in Frankreich 1789) verkündet werden, bestimmen den Wert dieser Grundrechte. Im Gegenteil. Auf die Rechtswirklichkeit kommt es an!

Wie sehr, das lässt sich im vorliegenden Modul am Beispiel der „Lebenserinnerungen“ (LINK 1) von Karl Heinrich Schaible herausarbeiten. Karl Heinrich Schaible macht nämlich seine persönlichen Erfahrungen von Unfreiheit und staatlicher Willkür unter den Strukturen eines Großherzogtums Baden, das seinen Untertanen in seiner Verfassung von 1818 bereits eine stattliche Anzahl an elementaren Justizgrundrechten gewährt hatte. (LINK 2)

Juristisch sind diese Grundrechte, auch wenn sie Teil einer Verfassung sind, aber bedeutungslos. Sie spielen für die konkrete Gesetzgebung, die konkrete Rechtsprechung und das konkrete Verwaltungshandeln (noch) keine Rolle. In der Rechtswirklichkeit sind sie (noch) nicht angekommen. Es fehlt (noch) an Gerichten und Behörden, in denen Menschen als Richter oder Staatsanwalt, als Hofgerichtsdirektor oder Polizeibeamter in ihrem Wahrnehmen, Denken und Handeln selbstverständlich anerkennen, dass der Staat, für den sie arbeiten, ein freiheitlicher Staat ist, der ein freiheitliches Betriebssystem hat, das auf Werten der Freiheit gründet, die von ihnen geschützt werden müssen. Es fehlt (noch) eine Rechtkultur, in der anerkannt ist, dass Grundrechte die notwendige Voraussetzung eines freiheitlichen Staates sind, dass sie dessen Wertordnung begründen und seinen Sinn und Zweck bestimmen, dass sie von Staats wegen souveränen Bürgern zu gewährleisten sind und nicht  unmündigen Untertanen gnädig zu gewähren. Sie können von den einzelnen Menschen (noch) nicht erfahren werden, weil sie juristisch nicht verbindlich sind.

Die Auseinandersetzung über die Frage, ob Grundrechte den Charakter einer bindenden Norm oder eher eines unverbindlichen politischen Programmes haben, durchzieht die Geschichte von Freiheit und Recht in Deutschland wie ein roter Faden. Hier gelten Grundrechte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vielmehr als „nice-to-have“-Rechte. Erst das Grundgesetz beendet 1949 diese Diskussion, indem Grundrechte „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ als „unmittelbar geltendes Recht“ binden (Art. 1). Damit hat die mühsame Arbeit an der Rechtswirklichkeit, die die Richter am Bundesverfassungsgericht nunmehr mit ihren Urteilssprüchen prägen, eine verbindliche normative Grundlage.   

Sind sie juristisch auch bedeutungslos, so kommt den Grundrechten im Vormärz allerdings eine wichtige politische Bedeutung zu. Sie sind Ziel und Mittel zugleich in einem Modernisierungsprozess, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Staat und Gesellschaft in voller Wucht erfasst. Grundrechte geben als politischer Kompass die Richtung vor, in die sich die Reformen des Staates bewegen sollen (vgl. die 13 Offenburger Forderungen von 1847). Inhaltlich neue und im Sinn der Grundrechte formulierte Gesetze sind das zentrale politische Werkzeug beim Umbau des politisch-moralisch zerfallenden Staatsgebäudes. Baden modernisiert, beispielsweise, unter regem Anteil von Parlament (LINK 3) und publizistischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1845 Strafrecht (LINK 4), Strafprozessrecht (LINK 5) und Gerichtsverfassung und führt im Zuge dieser Reformen den Staatsanwalt als Institution der Rechtspflege neu ein (LINK 6).

Der „Fall Kalle“ 1847

Dass diese Strafrechtsreformen jedoch noch nicht überall im Großherzogtum Baden von den verantwortlichen Akteuren in konkretes rechtstaatliches Handeln übersetzt werden, zeigt der Fall „Kalle“ (Karl Heinrich Schaible) aus dem Jahr 1847. Im Gefängnis Rastatt ist noch möglich, was in der liberalen Juristenhochburg Heidelberg vielleicht schon nicht mehr möglich ist. Die konkrete Handhabung eines politisch instrumentalisierten Strafrechts zur Verfolgung von Oppositionellen zeigt dem frühkonstitutionellen System im liberalen „Musterländle“ Baden Grenzen auf. Es gibt diese blinden Flecken, diese Missachtung elementarer Justizgrundrechte, wie sie im noch immer geheim durchgeführten Inquisitionsprozess gegen Karl Heinrich Schaible deutlich werden.

Dieser Fall ist historisch dokumentiert und lässt sich nicht wegleugnen. Im Fall „Kalle“ zeigen sich die Möglichkeiten zum Missbrauch staatlicher Macht, die ein Beamter im Großherzogtum Baden 1847, ein Jahr vor Ausbruch der Revolution, noch immer hatte. Wie groß der Liberalisierungs- und Modernisierungsbedarf im liberalen „Musterländle“ Baden 1848/49 in der Wahrnehmung der Zeitgenossen gewesen sein muss, das zeigt auch der persönliche Einsatz von vielen Menschen, die sich hier einer Freiheitsbewegung anschließen, die faktisch nur mit Mühe und mit Unterstützung durch preußisch geführte Bundestruppen niedergeschlagen werden kann.   

„Human Interest Stories“: Demokratiegeschichte vermitteln

Demokratiegeschichte lässt sich bestens über handelnde Menschen vermitteln. Erst im Handeln von Menschen wird Freiheit erfahren. Frei sein können Menschen nämlich nur in Bezug aufeinander (H. Arendt).  Bei allem Respekt vor dem Siegeszug der Strukturgeschichte und der Europäisierung der Perspektive auf die Geschichte von Freiheit und Demokratie muss heute nicht mehr all das, was personalisiert und biografisch zurückgebunden werden kann, aus dem Geschichtsunterricht und der historischen Bildung ferngehalten werden. Vielmehr geht der Weg von der Erfahrung zur Struktur, vom Akteur aus hin zu den Rahmenbedingungen, unter denen er seine Erfahrungen macht, teilt und weiterverarbeitet.

In didaktischer Hinsicht sind „Human Interest Stories“ als überlieferte Beispiele „tätiger Freiheit“ und ebenso tätiger Unfreiheit unverzichtbar. Häufig können 13 Jahre alte Schülerinnen und Schüler – grade auch diejenigen mit Migrationshintergrund – an Erfahrungen von Unfreiheit emotional und wertorientiert anknüpfen und den so geschaffenen Raum nutzen, um ihre eigenen Geschichten im Unterricht zu erzählen.

Das vorliegende Modul zur demokratischen Orientierung durch Geschichte versteht sich auch als ein Beitrag zu einem neuen Diskurs über die Geschichte von Freiheit und Demokratie. Demokratiegeschichte vermitteln heißt: den Blick richten auf Erfahrungen, die Menschen bei dem Versuch machen, in Deutschland und Europa die Spielregeln von Recht und Justiz, Demokratie und Bürgergesellschaft, Marktwirtschaft und Sozialstaat festzulegen und das zu einer Zeit in der europäischen Demokratiegeschichte, in der Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat keine Selbstverständlichkeiten sind und die beginnende Industrialisierung und Modernisierung (und die soziale Frage) den Wandel beschleunigt und die Menschen stark verunsichert.

Schülerinnen und Schülern menschliche Erfahrungen mit „tätiger Freiheit“ als verfehlte oder erfüllte, in jedem Fall aber historisch stets offene Möglichkeiten einer Politik der Freiheit zu vermitteln, ist notwendig, weil sich Menschen nicht nur gemeinsam an bestimmte Erfahrungen erinnern, sondern im gemeinsamen Erinnern ihre Vorstellungen begründen, wie sie miteinander in ihrer Bürgergesellschaft zusammenleben wollen. Gemeinsame Erinnerungen und gemeinsame Werte gehen dabei Hand in Hand. Werte sind ohne Erfahrungen und ihre Deutungen nicht denkbar. Darin besteht die Bedeutung demokratischer Orientierung durch Geschichte.


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -


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