Kriegsende 1918 und Dolchstoßlegende in südwestdeutschen Quellen

Hintergrund

Zeittafel


(a) Kriegsjahr 1918

21. März 1918
Beginn der ersten von mehreren deutschen Frühjahrsoffensiven an der Westfront. Innerhalb von rund zwei Wochen stoßen deutsche Truppen bis zu 60 Kilometer weit vor, werden aber vor der strategisch wichtigen Stadt Amiens aufgehalten.

9. April 1918
Beginn der zweiten deutschen Offensive. Wie im März gelingt ein tiefer Einbruch in die gegnerischen Stellungen, aber kein strategischer Erfiolg.

27. Mai 1918
Beginn der dritten Offensive, in deren Verlauf deutsche Truppen nach wenigen Tagen die über 50 Kilometer von den Aussgangsstellungen entfernte Marne erreichen.

B 2  Karte aus der Geschichte eines württembergischen Regiments

Im März 1918 verläuft die Front im Norden der Westfront, bei Lille, ungefähr entlang der gepunkteten Linie, dann nach Süden entlang der "Siegfried"-Stellung, im weiteren Verlauf entlang der durchgezogenen Linie. Vier Monate später verläuft die Front zwischen der belgischen Küste und Reims durchgehend entlang der durchgezogenen Linie. Bis November müssen die deutschen Truppen in die "Antwerpen-Maas-Stellung" zurückgehen. Von Mitte Juli bis zum Waffenstillstand erobern die Alliierten also weit größere Gebiete als die Deutschen – in einem ähnlichen Zeitraum – von März bis Juli.

 

Mitte Juli 1918
Eine vierte deutsche Großoffensive scheitert östlich und westlich von Reims bereits im Ansatz. Die Alliierten gehen zum Gegenangriff über.

8. August 1918
An diesem "schwarze[n] Tag des deutschen Heeres" (Ludendorff, Kriegserinnerungen, S. 547) verlieren die deutschen Truppen vor Amiens stark an Boden, ungewöhnlich viele deutsche Soldaten gehen in Gefangenschaft. Dieser Tag ist der Auftakt der alliierten 'Hunderttageoffensive', die bis November zu einem weit größeren Bodengewinn führt, als ihn die deutschen Offensiven im Frühjahr erzielt haben.

24. September 1918
Nach dem Vordringen alliierter Truppen über die griechisch-bulgarische Grenze bittet Bulgarien um Waffenstillstand.

29. September 1918
Die Oberste Heeresleitung verlangt von der Reichsleitung angesichts der Lage an der Westfront und auf dem Balkan die unverzügliche Herbeiführung eines Waffenstillstands.

4. Oktober 1918
Reichskanzler Max von Baden bittet US-Präsident Wilson, einen Waffenstillstand herbeizuführen.

7. November 1918
Die deutsche Waffenstillstandskommission unter Leitung von Matthias Erzberger überquert die Front zur Aufnahme von Verhandlungen.

B 3 Dolchstoß-Propaganda vor den Wahlen 1924

Die Zeichnung stellt Erzberger als einen derjenigen dar, die für den Dolchstoß verantwortlich waren. Vor ihm steht, durch seine charakteristische Physiognomie identifizierbar, Philipp Scheidemann. Die beiden Männer hinter Erzberger stellen vermutlich reiche Juden mit ihren klischeehaften Geldsäcken dar.
Die hier von einem Dritten handschriftlich ergänzte Darstellung ("Erzberger", "Das bist Du! Du Schuft!") hat offensichtlich rechte Urheber. Der sozialdemokratische Vorwärts veröffentlichte die Zeichnung am 3. Mai 1924 im Vorfeld der Reichstagswahlen in einer Extra-Ausgabe, vermutlich um die Rechte zu diskreditieren.

 

11. November 1918
Der Waffenstillstand, der einer Kapitulation ähnelt, tritt in Kraft.


(b) Die Legende vom 'Dolchstoß'

B 4 "Und Ihr?" Werbeplakat für Kriegsanleihen

Dieses Werbeplakat nimmt, wie allgemein die staatliche Kriegspropaganda, die 'Heimat' in die Pflicht und bereitet damit den Boden für den Vorwurf, diese sei zumindest mitverantwortlich für die Niederlage.

Dezember 1918
Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlicht am 17. Dezember einen Artikel über den englischen General Maurice, in dem es heißt, die deutsche Armee sei "von hinten erdolcht" worden. Die rechtsgerichtete Deutsche Tageszeitung zitiert diesen Artikel am folgenden Tag. Am 31. Dezember heißt es in der konservativen Neuen Preußischen Zeitung (Kreuz-Zeitung): "Unseren kämpfenden Truppen haben wir den Dolch in den Rücken gestoßen".

B 5 Titelblatt des vielverkauften Buches von Hans Freiherr von Liebig, Der Betrug am deutschen Volke. Grosse Ausgabe; München 1919

Hans Freiherr von Liebig (1874-1931) war einer der Autoren, die - vor allem in den ersten Jahren der Weimarer Republik - die Ursachen der Niederlage in der Heimat verorteten. Der Davidstern auf dem Rücken der Spinne illustriert die antisemitische Komponente der Dolchstoßlegende.

29. Oktober 1919
Im Reichstag sagt der DNVP-Abgeordnete Albrecht von Graefe, "der englische General Morris [sic]" habe "leider mit Recht" erklärt, dass die deutsche Armee "von hinten erdolcht wurde".

 18. November 1919
Vor einem Untersuchungsausschuss des Reichstags, der sich mit verschiedenen Aspekten des Krieges befasst, stellt der als Zeuge geladene Hindenburg unter Bezug auf 'einen englischen General' fest, das deutsche Heer sei "von hinten erdolcht worden".

B 6 Karikatur aus der Satirezeitschrift Kladderadatsch 1919

Darstellung von Hindenburgs Aussage zu den Ursachen der Niederlage vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags in der Ausgabe vom 30. November 1919 der Satirezeitschrift Kladderadatsch. 

9.-23. Dezember 1924
Prozess vor einem Magdeburger Gericht, der auf eine Klage von Reichspräsident Ebert gegen einen Journalisten zurückgeht. Dieser hatte Ebert aufgrund seiner Beteiligung an einem Berliner Streik im Januar 1918 des Landesverrats bezichtigt. Das Gericht verurteilt den Journalisten aus formalen Gründen, stellt andererseits aber explizit fest, dass Eberts Beteiligung an dem Streik Landesverrat war

 

B 7 Freiburger Zeitung zum "Ebertprozess" 28.12.1924

Oktober / November 1925
Im Münchner 'Dolchstoßprozess' geht es um den Vorwurf der "Geschichtsfälschung", den der Herausgeber der sozialdemokratischen Münchener Post gegen Paul Nikolaus Cossmann, den Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte, erhoben hatte.

 B 8 Die Cover der Süddeutschen Monatshefte von April und Mai 1925

An diesen beiden Ausgaben entzündete sich der Münchner 'Dolchstoßprozess'.

Oktober 1928
In einer seiner Reden bringt Adolf Hitler zum Ausdruck, dass die Niederlage im Herbst 1918 vermeidbar war und man Lehren aus den damaligen Ereignissen ziehen müsse:
"Die Frage der Zukunft wird nicht sein 'Republik oder Monarchie', sondern: Wie machen wir Deutschland in seinen Grundlagen so sauber und kräftig und stark, dass es für alle Zukunft Katastrophen wie am 9.11.1918 nicht mehr erleben kann."
Bereits im Kapitel "Ursachen des Zusammenbruchs" von Mein Kampf hatte er sich ähnlich geäußert.

3. September 1939
In einem Aufruf "an das deutsche Volk" bezieht sich Hitler nach der Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens explizit auf die Niederlage von 1918.

B 9 Hitlers Aufruf "an das deutsche Volk" vom 3. September 1939 (Freiburger Zeitung, 4.09.1939, zweites Blatt).

13. Dezember 1945
Im Nürnberger Prozess stellt der Hilfsankläger für die Vereinigten Staaten, Major William B. Walsh, fest, es sei "eine deutsche Theorie" gewesen,
"dass der erste Weltkrieg mit der deutschen Niederlage endete, weil es innerhalb des Landes zum Zusammenbruch gekommen sei. Bei der Planung zukünftiger Kriege beschloß man daher, dass man die Heimatfront sicher in der Hand haben müsste, um einer Wiederholung des Debakels von 1918 vorzubeugen. Die Einigung des deutschen Volkes war für die erfolgreiche Planung und Durchführung des Krieges wesentlich, und der politische Grundsatz der Nazis: 'Ein Volk, ein Reich, ein Führer' mußte festgelegt werden.
Die freien Gewerkschaften mußten abgeschafft, politische Parteien außer der Nationalsozialistischen Partei verboten, die bürgerlichen Freiheiten aufgehoben und jede Art von Opposition weggefegt werden. Gottesfurcht, der Glaube an die Kirche und Achtung vor der wissenschaftlichen Wahrheit wurden als nicht vereinbar mit dem Nazi-Regime erklärt. Die antijüdische Politik war ein Teil dieses Vereinheitlichungsplanes, weil die Nazis davon überzeugt waren, dass die Juden das deutsche Militärprogramm nicht unterstützen, sondern im Gegenteil es hindern würden. Darum mußte der Jude ausgerottet werden".
Nürnberger Prozess, 19. Tag, 13.12.1945, Nachmittagssitzung.

B 10 Auszug aus Dokument 1919-PS (Nürnberger Prozesse 13. Dezember 1945),  Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal. Nuremberg 14 November 1945 – 1 October 1946. Volume XXIX. Official Text. English Edition. Documents and other Material in Evidence; Nürnberg 1948, S. 144f. , gemeinfrei

Ankläger Walsh zitierte daraus am 13. Dezember 1945 in Nürnberg als Beleg für seine oben wiedergegebenen Ausführungen. Es handelt sich um eine lange Rede, die Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 vor hohen SS-Führern gehalten hatte. Himmler sprach unmittelbar vor dieser Passage explizit von der "Ausrottung des jüdischen Volkes", die für ihn ein "Ruhmesblatt unserer Geschichte" darstellte.

 

 - Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -