„Nur weil sie Sinti waren“ – Unterrichtsmodul zur Ausgrenzung von Sinti und Roma
Autorin: Christine Eggers
Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Mannheim
Kurzbeschreibung des Moduls:
Das vorliegende Modul eignet sich für die Sekundarstufe 1 und 2 sowie für die Berufsschule.
Seit der frühen Neuzeit wurden Sinti und Roma von der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland ausgegrenzt. Ihren radikalen Höhepunkt erreichte diese Ausgrenzung in der Zeit des Nationalsozialismus, als Sinti und Roma systematisch erfasst, in Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden.
Dieses Modul soll verdeutlichen, dass die Zeit des Nationalsozialismus nicht der einzige Zeitraum war, in dem Sinti und Roma Verfolgung und Ausgrenzung ausgesetzt waren, sondern dass sie sowohl in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches als auch in der Nachkriegszeit schon bzw. weiterhin einer Diskriminierung ausgesetzt waren. Die Kontinuität der Ausgrenzung soll in diesem Modul in den Fokus gerückt werden, um ein tieferes Verständnis dafür zu ermöglichen, dass der Antiziganismus in der Zeit des Nationalsozialismus eine Vor- und Nachgeschichte hatte. Zudem wird den SchülerInnen ermöglicht, sich damit auseinanderzusetzen, wie eine mögliche Erinnerungskultur an die Verbrechen an den Sinti und Roma heutzutage aussehen könnte.
1. Hintergrund
a) Historische Einordnung
19. Jahrhundert vor der Industrialisierung:
Sinti und Roma haben als „fahrendes Volk“ insbesondere für die ländliche Bevölkerung eine wichtige Funktion in Bezug auf die Versorgung mit Waren und Informationen aus der „großen weiten Welt“.
19. Jahrhundert mit beginnender Industrialisierung:
Die zunehmende Mobilität ermöglicht es mehr Menschen, schnell und einfach zu reisen und viele Funktionen, die Sinti und Roma vorher als Reisende übernommen hatten, werden überflüssig. Diese werden als unangepasst an die Erfordernisse der Industrialisierung wahrgenommen und zunehmend von der Gesellschaft ausgegrenzt. In der Zeit des Kaiserreichs ergreifen auch staatliche Behörden Maßnahmen, die den Sinti und Roma das freie Umherziehen und Ausleben ihrer Wanderkultur immer mehr erschweren.
1918-1933 Weimarer Republik:
In dieser Zeit werden die staatlichen „Maßnahmen zur Bekämpfung des Zigeunerwesens“ ausgeweitet. Es werden Kontrollmaßnahmen und rassistische Sondergesetze eingeführt, die darauf abzielen, die Sinti und Roma dazu zu zwingen, sesshaft zu werden. Gleichzeitig gibt es nur wenige Gemeinden, die bereit dazu sind, Sinti und Roma dies überhaupt zu ermöglichen.
1933-1942 Nationalsozialismus I: Ausgrenzung
Während der Zeit des Nationalsozialismus wird die Ausgrenzung von Sinti und Roma aus der Volksgemeinschaft systematisch vorangetrieben. Betteln wird verboten, das Lagern in Wohnwagen extrem erschwert. Propaganda stellt die Sinti und Roma als „Parasiten“ und „Plage“ dar, sie seien „kriminell“, „asozial“ und „volksschädlich“.
1943-1945 Nationalsozialismus II: Deportationen und Porajmos
Die Verfolgung erreicht 1943 ihren traurigen Höhepunkt, als im ganzen Reich systematisch alle Sinti und Roma erfasst werden, um sie in das Konzentrationslager Auschwitz zu deportieren und dort zu ermorden. Nur wenige deutsche Sinti und Roma überleben.
Nachkriegszeit
Obwohl das Grundgesetz von 1949 die Gleichberechtigung aller Menschen einfordert, werden Sinti und Roma in vielerlei Hinsicht weiterhin diskriminiert – und das nicht nur von der Mehrheitsbevölkerung, sondern auch von staatlicher Seite oder durch die Medien, die weiterhin Klischees aus der NS-Zeit, verbreiten. Gleichzeitig werden Sinti und Roma nicht offiziell als Opfergruppe anerkannt.
1985
Sinti und Roma werden offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Ihnen wird der gleiche Opferstatus zugebilligt wie jüdischen Opfern. Dies bildet die erste Grundlage zur Aufarbeitung des ihnen angetanen Unrechts sowie zu einer Gedenkkultur und Wiedergutmachung.
b) Historische Bedeutung
Die Beispiele der Diskriminierung von Sinti und Roma zu ganz unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Kontexten verdeutlichen, dass die Ausgrenzung dieser Bevölkerungsgruppe eine Kontinuität aufweist, die teilweise bis in die Gegenwart reicht.
Für die SchülerInnen wird greifbar, dass nicht nur die Mehrheitsbevölkerung Sinti und Roma aufgrund von Vorurteilen ausgrenzte, sondern dass es insbesondere staatliche Maßnahmen waren, die dazu beitrugen, sie auszugrenzen, indem Gesetze erlassen wurden, die das Ausleben der Kultur der Sinti und Roma erschwerten oder sogar gänzlich unmöglich machten.
Gleichzeitig wird anhand des Sprachgebrauchs deutlich, dass Sinti und Roma als sogenannte „Zigeuner“ immer wieder als „Plage“ wahrgenommen wurden, die man „bekämpfen“ müsse. An dieser Stelle kann auch auf den sensiblen Umgang mit Sprache eingegangen werden.
In den Quellentexten wird der historische Begriff „Zigeuner“ verwendet. In den Aufgabenstellungen wurde der Begriff in Anführungszeichen genutzt, wenn sich die Aufgabe direkt auf den Quellentext bezieht, um genau diesen direkten Bezug deutlich zu machen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, mit den SchülerInnen im Vorfeld zu thematisieren, dass dieser Begriff heutzutage als diskriminierend wahrgenommen wird.
2. Das Thema im Unterricht
a) Impulse und Material für den Unterricht mit didaktischen Hinweisen
| Zeit/Phase | Inhalte/methodische Hinweise |
| Doppelstunde | |
| Einstieg | Bild von Familie Reinhardt gemeinsam ansehen: Was lässt sich anhand des Bildes von Familie Reinhardt über ihr Leben sagen? Aktivierung von möglichem Vorwissen der SchülerInnen: was wissen die SchülerInnen schon über das Thema „Sinti und Roma“ oder ihre Geschichte? An dieser Stelle bietet es sich an, auch schon den Begriff „Antiziganismus“ zu erklären, wenn er den SchülerInnen noch nicht bekannt sein sollte; es sollte kurz thematisiert werden, dass die Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ als diskriminierend wahrgenommen wird. (AB 1, pdf, 179 KB) |
| Erarbeitung 1 | Um eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, sollte zuerst das Arbeitsblatt „Die Kultur der Sinti und Roma“ in Einzel- oder Partnerarbeit bearbeitet und dann im Plenum besprochen werden. (AB 1, pdf, 179 KB) |
| Erarbeitung 2 |
Danach folgt eine arbeitsteilige Gruppenarbeit. Dafür werden die SchülerInnen auf fünf Arbeitsgruppen verteilt, die sich jeweils mit unterschiedlichen Zeitabschnitten beschäftigen. Zunächst sollte jede Gruppe ihre jeweiligen Arbeitsblätter bearbeiten und daraus eine kurze Präsentation für das Plenum vorbereiten. |
| Auswertung/Transfer |
Nach der Vorstellung der verschiedenen Arbeitsgruppen kann eine Diskussion innerhalb des Plenums erfolgen:
Trotz thematischer und historischer Unterschiede innerhalb der Arbeitsergebnisse der Gruppen, dürfte den SchülerInnen schnell auffallen, dass es eine Konstante in Bezug auf die Geschichte der Sinti und Roma innerhalb der letzten 200 Jahre gab: Zu allen Zeiten wurden sie diskriminiert und es wurde eine Grenze zwischen dem „fahrenden Volk“ und der sesshaften Gesellschaft gezogen. Aspekte, die durchgängig immer wieder auftauchen, waren z.B. die systematische Erfassung von Sinti und Roma, der Versuch, sie durch Zwang sesshaft zu machen, ihre Diskriminierung durch Vorurteile sowie die Vertreibung umherziehender Familien aus Ortschaften. |
| Erarbeitung 3 | Danach kann das Arbeitsblatt „Heutiges Gedenken“ als Einzel- oder Partnerarbeit bearbeitet werden, wobei es erst einmal nur darum gehen sollte, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie in dem konkreten Beispiel an die Opfer des Porajmos erinnert wird. (AB 7, pdf, 313 KB) |
| Transfer |
Abschließend kann eine Diskussion im Plenum erfolgen:
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Alle Arbeitsblätter herunterladen (arbeitsblaetter.zip; 3,2 MB)
Mögliche Differenzierungen
Zur Vereinfachung wäre es möglich,
a) die Gruppenarbeit auf eine oder zwei Gruppen zu reduzieren, sodass mehr Unterstützung und Hilfestellung durch die Lehrkraft bei den SchülerInnen möglich ist.
b) schon verschiedene Skizzenmöglichkeiten für die Erarbeitungsphase 2 anzubieten, so dass die SchülerInnen sich für jeweils eine Version davon entscheiden können.
c) die letzte Transferphase wegzulassen.
Für sehr leistungsstarke Kurse würde es sich anbieten,
a) sich noch weiterführend mit heutigen Stereotypen auseinanderzusetzen, z.B. mit dem „Zigeunerschnitzel“.
b) sich differenzierter mit dem Foto von Familie Reinhardt zu beschäftigen. Was zeigt es? Was zeigt es nicht? Inwiefern sagt ein solches Foto genauso viel über den Fotografen, der kein Sinto war, aus, wie über die dargestellte Familie? Inwiefern prägen Bilder, die nicht von Sinti selbst gemacht wurden, unsere Sicht auf sie?
b) Bildungsplanbezug
Inhaltbezogene Kompetenzen:
Inhaltsbezogene Kompetenzen
3.2.5. Der industrialisierte Nationalstaat – Durchbruch der Moderne
Die Schülerinnen und Schüler können...
• die Ambivalenz moderner Lebenswelten um 1900 analysieren.
3.2.7. Europa in der Zwischenkriegszeit – Durchbruch und Scheitern des demokratischen Verfassungsstaates
Die Schülerinnen und Schüler können…
• Durchbruch und Scheitern der parlamentarischen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1930er Jahre beschreiben (Beispiel ethnische Minderheiten).
3.3.1 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg –
Zerstörung der Demokratie und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die Schülerinnen und Schüler können…
• das Alltagsleben in der NS-Diktatur zwischen Zustimmung, Unterdrückung und Widerstand erläutern (Beispiel Sinti und Roma).
• die sich aus der Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen ergebende Verantwortung begründen.
Prozessbezogene Kompetenzen:
nachvollziehe2.2 2.2 Methodenkompetenz:
unterschiedliche Materialen kritisch analysieren.
historische Sachverhalte in ihren Wirkungszusammenhängen analysieren.
Sach- und Werteurteile analysieren, selbst formulieren und begründen.
Regionalgeschichtliche Beispiele in übergeordnete historische Zusammenhänge einordnen.
Leitperspektive
Der konstruktive Umgang mit Vielfalt stellt eine wichtige Kompetenz für SchülerInnen in einer zunehmend von Komplexität und Vielfalt geprägten modernen Gesellschaft dar. Das Unterrichtsmodul bietet für die SchülerInnen die Möglichkeit, sich mit einer für sie vermutlich fremden Ethnie und ihrer Geschichte zu beschäftigen und ihre Kultur kennenzulernen. Dies fördert Respekt und Akzeptanz für Menschen, die anders als die Mehrheitsgesellschaft leben und regt auch dazu an, sich damit auseinanderzusetzen, inwiefern Minderheitenschutz wichtig ist, um Menschenrechte zu schützen.
Der Bildungsplan ist nicht unter CC veröffentlicht: (C) Bildungsplanplattform Baden-Württemberg
Literatur
- Guttenberger, Martha / Werner, Manuel (2020): „Die Kinder von Auschwitz singen so laut!“ – Das erschütterte Leben der Sintiza.
- Huth, Arno (2009): Verfolgung der Sinti und Roma und Jenischen im ländlichen Raum des Kraichgaus, des Neckartals, des Elztales und des Baulandes – eine Dokumentation, Mosbach Neckarelz.
- Rose, Romani (1999): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg.
- Schenk, Michael (1994): Rassismus gegen Sinti und Roma – Zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart, Frankfurt a.M..
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Mannheim -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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