"Dass sich noch Leute finden, welche an uns denken (...)", Zwangsarbeiter in Tuttlingen - Spurensuche - Erinnern - Verantwortung

Methodenvorschlag

Didaktische Hinweise


Im Schweizer Bundesarchiv in Bern liegt eine Arbeitskarte, die Fragen aufwirft. Es ist die Arbeitskarte eines jungen polnischen Zivilarbeiters, Boleslaw Prochazka, der in der Nähe von Tuttlingen auf einem Bauernhof als Landarbeiter beschäftigt war. Zum Einstieg in den Themenbereich "Zwangsarbeit in Tuttlingen" wird den Schülerinnen und Schülern eben diese Arbeitskarte vorgelegt. Entdeckendes Lernen motiviert, die Informationen aus der Arbeitskarte zusammenzustellen, gleichzeitig wirft die Quelle Fragen auf, es wird Neugierde geweckt, die überhaupt ein historisches Denken und Forschen ermöglicht. (Sachkompetenz, Fragekompetenz, Methodenkompetenz und Reflexionskompetenz)

Im nächsten Schritt wird deutlich, dass Boleslaw Prochazka kein Einzelfall war, sondern dass während des Zweiten Weltkriegs, um den Mangel an Arbeitskräften im eigenen Land auszugleichen, Menschen aus besetzten Gebieten zwangsweise nach Deutschland gebracht wurden, um dort zu arbeiten. Das lokale Beispiel wird in den historischen Kontext eingeordnet (Orientierungskompetenz und Sachkompetenz). Hierzu arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit einem klassischen Arbeitsblatt, müssen jedoch auch auf der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews 1939 - 1945" recherchieren. Sie lernen das Online-Archiv "Zwangsarbeit" professionell zu nutzen. Dabei wird die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler gefördert.

Im nächsten Schritt steht wieder das Individuum im Fokus. Grigori Masurs Äußerung "Dass sich noch Leute finden, welche an uns denken und uns Gequälte noch mal einladen.", macht die Bedeutung von Erinnerung, historischer Aufarbeitung und Verantwortung nachfolgender Generationen deutlich. Schülerinnen und Schüler entwickeln erste Leitfragen und Möglichkeiten der Erinnerungen und historischen Aufarbeitung (Reflexionskompetenz, Orientierungskompetenz, Methodenkompetenz). Nun nehmen die Schülerinnen und Schüler die Rolle von Historikerinnen und Historikern ein, die eine Ausstellung zum Thema "Zwangsarbeiter in Tuttlingen" planen. Zunächst entwickeln sie in Gruppen ein Konzept für die Ausstellung. Dazu gehört es Themenbereiche und Fragestellungen zu formulieren. Eigenverantwortlichkeit, Kreativität und insbesondere historische Fragekompetenz werden in dieser Phase gefördert. In der Oberstufe können die erarbeiteten Grundlagen als tatsächliches Konzept für die Ausstellung verwendet werden. Klassen der Mittelstufe arbeiten, angeleitet mit konkreten Fragen und Rechercheaufträgen, arbeitsteilig an den Themen "Wege in die Zwangsarbeit", "Arbeitsbereiche und Tätigkeiten von Zwangsarbeiter*innen", "Lebensbedingungen" und "Kriegsende - eine Befreiung in ein besseres Leben?" . Als Hauptquelle liegen Erinnerungen sechs ehemaliger Zwangsarbeiter*innen vor.

B 9 Arbeitskarte Alexander Wassiltschenko

 

Subjektivität, Anschaulichkeit und ein hohes Maß an Identifikationsstiftung bietet die Zeitzeugenerinnerung als Quelle im Geschichtsunterricht. Für Schülerinnen und Schüler ist es motivierend einen Zeitzeugenbericht zu lesen. Allerdings muss der Quellenwert kritisch thematisiert werden. Schülerinnen und Schüler erkennen, die unbedingte Notwendigkeit der Erinnerung an das Individuum, gleichzeitig realisieren sie, dass für eine historische Darstellung in Form einer Ausstellung auch weitere Informationen nötig sind. Für die vorliegende Unterrichtseinheit werden Informationsmaterialien zum Lager Mühlau sowie zu den sogenannnten "Ostarbeitererlassen" bereitgestellt. Zudem recherchieren die Gruppen im Online-Archiv "Zwangsarbeiter" und auf der Homepage der Stadt Tuttlingen, hier finden sie Hintergründe zum gewaltsamen Tod der beiden Zwangsarbeiter Boleslaw Prochazka und Anoni Midinski. Die Gruppen haben nun die Aufgabe in 90 Minuten ihr Thema zu recherchieren und Ausstellungstexte sowie eine passende Darbietung vorzubereiten. Gruppen die auf E-Niveau arbeiten versuchen die Frage zu integrieren, inwieweit Widersprüchlichkeiten zur NS-Ideologie festzustellen sind, oder gar eine perfide Umsetzung der NS-Ideologie gegenüber Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern anzunehmen ist. Allerdings setzt das voraus, dass NS-Ideologie bereits thematisiert wurde. Die Schülerinnen und Schüler haben eine forschende Aufgabe, indem sie das Material prüfen und entscheiden, welche Inhalte für den zugeteilten Themenbereich relevant sind (Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Reflexionskompetenz, Orientierungskompetenz).

Anschließend erfolgt die Präsentation der Ausstellung, jede Gruppe stellt den erarbeiteten Themenbereich vor. Für die Oberstufe ist es denkbar, die Ausstellung Klassen der Mittelstufe zu präsentieren oder das Ergebnis zu digitalisieren. Zur Vertiefung werden im nächsten Unterrichtsschritt Zeitungsartikel zur Vernissage der Ausstellung geschrieben. Die Schülerinnen und Schüler nehmen eine andere Perspektive ein, fassen Inhalte zusammen und beurteilen. Gleichzeitig dient diese Arbeitsphase der Ergebnissicherung. Am Ende der Unterrichtseinheit stehen in einer Problematisierungsphase nicht Fakten und historische Zusammenhänge im Mittelpunkt, sondern der Blick wird auf die Individuen, auf die missachtete Menschenwürde gegenüber ehemaligen Zwangsarbeitern gerichtet. Deshalb überlegen die Schülerinnen und Schüler ganz individuell, was sie zum erarbeiteten Thema bewegt. Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie werden deutlich. Auf E-Niveau wird darüber reflektiert, was die Unterrichtseinheit mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes zu tun hat. Empathiefähigkeit, Reflexionskompetenz und Orientierungskompetenz werden in dieser Phase gefördert.

B 4 Arbeitskarte von Eudekij Konowal

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -


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