"Unwertes Leben"? "Euthanasie" in der Illenau

Hintergrund

Bedeutung


 

Verbrechenskomplex NS-„Euthanasie“

Der Verbrechenskomplex, der von den Nationalsozialisten euphemistisch als „Euthanasie“ (Gnadentod) bezeichnet wurde, umfasst die Ermordung von Menschen, die von den Tätern als „lebensunwert“ charakterisiert wurden und ideologisch nicht der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsutopie“ entsprachen und folglich „auszumerzen“ waren. Hierzu zählen sowohl Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, psychischen Erkrankungen, aber als auch Menschen, die sozial unangepasst, politisch unliebsam waren oder von ihren Familien entmündigt wurden (vgl. Stöckle 2020).

Die Heterogenität der Opfergruppen wird flankiert von der Größe des Raumes, in welchem der Verbrechenskomplex der NS-„Euthanasie“ stattfand. Neben den sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich (darunter auch das Schloss Grafeneck bei Reutlingen), in welchen Menschen unter Verwendung von Kohlenmonoxid in Gaskammern ermordet wurden („Aktion T4“), zählen hierzu beispielsweise auch die Ermordung arbeitsunfähiger Patienten von Heil- und Pflegeanstalten im besetzen Polen und in den preußischen Provinzen sowie die planmäßige Tötung von kranken KZ-Häftlingen im Rahmen der „Aktion 14f13“ (vgl. zur Geschichte der NS-„Euthanasie“ grundlegend Schinkel 2017).

Zweckrational und rassistisch

Ideologisch fußt sowohl der Verbrechenskomplex der NS-„Euthanasie“ als auch die systematische Ermordung der europäischen Juden auf zweckrationalen und rassistischen Denkmustern (grundlegend hierzu Bultmann 2005 und Bultmann/Hellberg 2021). „Infolge dieser ideologischen Grundannahmen wurden Menschen als rassisch ‚nutzlos‘ definiert, während ihre Ermordung als wirtschaftlich und medizinisch ‚nützlich‘ angesehen wurde. Die Verachtung von Mensch und Recht, die Aufhebung des Gleichheitsgrundsatzes und damit die Klassifizierung von Leben in ‚wertes‘ und ‚unwertes‘, von Menschen in ’hochwertig‘ und ‚minderwertig‘ bildete hier das rassistische Grundgerüst“ (Bultmann/Hellberg 2021, S. 1).

Verbrecherische Gesetze

Die Verbrechen wurden begleitet von einer Reihe von Gesetzen, die im Deutschen Reich erlassen wurden, worunter das „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ (14.7.1933) die Sterilisation von Menschen gegen ihren eigenen Willen ermöglichte und der „Runderlass des Reichsinnenministerium“ (18.8.1939) Ärzte, Neugeborene und Kinder bis zu drei Jahren mit einer Behinderung den zuständigen Gesundheitsämtern zu melden. Diese juristischen Rahmenbedingungen ermöglichten somit den ersten Massenmord des NS-Regimes an Zivilisten (vgl. hierzu auch Bultmann/Hellberg 2021 und Schinkel 2017).

 

Illenau 360 Grad

B 5 360-Aufnahme der ehemaligen staatlichen Heil- und Pflegeanstalt Illenau

NS-„Euthanasie“ in der Illenau

Blick auf die Opfer…

Auch auf der Ebene der Regionalgeschichte lassen sich eine Vielzahl von begangener Verbrechen im Kontext der NS-„Euthanasie“ identifizieren. Am Beispiel exemplarischer Opferbiografien von Patienten aus der staatlichen Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern lassen sich besonders sowohl die Anwendung des „Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ als auch die Deportation in Tötungsanstalt Grafeneck mit „grauen Bussen“ und die damit verbundene Ermordung von mindestens 254 der Patienten rekonstruieren. Die Illenau wurde am 19.12.1940 nach der „Verlegung“ der letzten Patienten aus der Liste der badischen Heil- und Pflegeanstalten gestrichen und Teile des Gebäudekomplexes ab 1940 bis zum Jahr 1944 als „Volksschule für Reichsdeutsche“ Mädchen aus Südtirol genutzt.

… und die Täter

Der letzte Leiter der Heil- und Pflegeanstalt, Dr. Hans Roemer, verlässt nach zuvor selbst beantragten Krankschreibungen im Jahr 1940 während der Durchführung der „Aktion T4“ die Illenau in die vorzeitige Pensionierung. Obwohl Roemer nicht als grundsätzlicher Gegner des Regimes bezeichnet werden kann, versuchte Roemer wiederholt, den Abtransport der Patienten aus der Illenau zu verzögern und zu verhindern sowie Unterstützer für ein koordiniertes Vorgehen gegen die Ermordung von Menschen im Rahmen der „Aktion T4“ zu finden. Hans Roemer erfuhr keine Repressionen für sein Verhalten während des Nationalsozialismus und wurde in der Nachkriegszeit beim Entnazifizierungsverfahren im Jahr 1947 als „Mitläufer“ eingestuft.

   

B 3 Portrait Dr. Hans Roemer

 

 


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Freiburg -


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