„Wohin bringt ihr uns?“ NS-„Euthanasie“ am Beispiel von Weissenau

Hintergrund

Zeittafel


Mit der Machtübertragung auf Adolf Hitler am 30. Januar 1933 wurde die NS-Ideologie staatstragend. Dabei knüpfte die Ideologie im Bereich der Rassenlehre an die europäisch verbreitete Tradition der Eugenik an. Diese hatte das Ziel, das deutsche Volk wieder zu einer „gesunden", „starken" „Rasse" werden zu lassen. Die Tötung (erb)kranker Menschen diente hierbei als legitimes Mittel.

 

14. Juli 1933: „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"
Bereits am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" („Erbgesundheitsgesetz") erlassen. Dieses basierte auf einem nie umgesetzten Gesetzesentwurf aus der Weimarer Republik, in welchem die Sterilisation „erblich Belasteter“ auf freiwilliger Basis vorgesehen war.
Mit dem Gesetz wurden Zwangssterilisationen von „erbkranken“ Menschen, zu denen körperlich und psychisch Kranke, aber auch Alkoholiker zählten, gesetzlich legitimiert. Denn die Sterilisation durfte nach §12 Absatz 1 ausdrücklich gegen den Willen des Patienten auch mit Zwang durchgesetzt werden.

Während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurden in Deutschland nach aktuellen Schätzungen mindestens 360 000 Menschen zwangssterilisiert.
Ravensburg gilt als Zentrum der Zwangssterilisationen in Oberschwaben. Denn im damaligen städtischen Krankenhaus, dem Heilig-Geist-Spital, wurden zwischen 1934 und 1944 min. 602 Personen unfruchtbar gemacht. Diese relativ hohe Anzahl liegt darin begründet, dass das Städtische Krankenhaus auch für die Sterilisation von Patienten beziehungsweise Bewohnern der überregional tätigen Heilanstalt Weissenau, der Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf sowie für das St. Gertrudheim in Rosenharz zuständig war.

 

18. Oktober 1935: „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes"
Mit dem sog. Ehegesundheitsgesetz wurden Ehen zwischen Personen, welche an einer ansteckenden Krankheit, einer Erbkrankheit, einer geistigen Störung litten oder entmündigt waren, verboten. Vor jeder Eheschließung musste ab sofort ein Ehegesundheitszeugnis des Gesundheitsamtes vorgelegt werden.

Im selben Jahr wurden die Gesundheitsämter dazu aufgefordert, die gesamte Bevölkerung erbbiologisch zu erfassen. Hierzu wurden auch in der Heil- und Pflegeanstalt Weissenau sogenannte Erbgutachten erstellt. Sie basierten auf Verwandtenbefragungen, Stammbäumen und Krankenakten.


18. August 1939: Runderlass des Reichsinnenministers enthält Meldepflicht
Mit dem geheimen Runderlass des Reichsinnenministers Wilhelm Frick wurden Ärzte und Hebammen dazu verpflichtet, behinderte Neugeborene und Kinder unter drei Jahren den zuständigen Gesundheitsämtern zu melden. Auf diese Weise wurden bis Kriegsende mindestens 5.000 Säuglinge und Kleinkinder in 30 eigens eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ verschiedener Krankenanstalten verlegt und dort durch überdosierte Medikamentengabe oder Nahrungsmittelentzug umgebracht.

Mit einem auf dem 1. September 1939 rückdatierten Erlass beauftragte Hitler Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt dazu, Ärzte namentlich zu bestimmen, welche unheilbar Kranken den „Gnadentod“ gewähren dürfen. Damit wurde die NS-„Euthanasie“ vom „Führer" legitimiert.
 
 
ab September 1939: Erfassung von Heil- und Pflegeanstalten und deren Patienten

Auch in Württemberg wurde die Landesregierung aufgefordert, alle Heil- und Pflegeanstalten und ab dem 9. Oktober 1939 auch alle Patienten zu erfassen. Dabei wurden Informationen über Krankheit, Aufenthaltsdauer und Arbeitsfähigkeit der Patienten gefordert. Die zuständigen Ärzte wurden zunächst darüber im Unklaren gelassen, wofür die Angaben dienten. Auch in der Heil- und Pflegeanstalt Weissenau wurden die Meldebögen für alle Patienten ausgefüllt. Sogenannte Begutachtungsärzte entschieden dann nach Aktenlage über Leben und Tod. Die als nicht mehr „lebenswürdig“ eingestuften Personen wurden mit Bussen der sog. „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (Gekrat) abgeholt und im Fall von Weissenau nach Grafeneck auf die Schwäbische Alb gefahren.
Aufgrund der geografisch abgeschiedenen Lage war in Württemberg die Wahl auf Grafeneck als Tötungszentrum gefallen. Hier wurden ca. 10.654 Menschen, davon 691 Patienten aus der Weissenau, durch Kohlenmonoxid getötet.
Die Hinterbliebenen wurden oftmals über die Verlegung ihrer Angehörigen gar nicht informiert oder erhielten eine Standardinformation von der Landespflegeanstalt Grafeneck. Auf ihre Nachfragen bei der Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Weissenau erhielten sie oft nur ausweichende Antworten und verwiesen auf andere Stellen. 
Bereits im Dezember 1940 wurde die Tötungsanstalt Grafeneck geschlossen und das Personal in die hessische Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Für die Schließung war u.a. das Scheitern der Geheimhaltung ausschlaggebend.

Die Tötung von Menschen mit psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen wurde in Deutschland bis August 1941 fortgesetzt.

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Tübingen -


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